Der Mann mit dem verbeulten Strohhut ist nicht zu übersehen. Er trägt ein Hemd mit zitronengelben und apfelgrünen Streifen. An diesem Morgen im Mai schwebt der feuchte Atem der Wiese in kleinen Wölkchen über dem Boden. Der Mann stapft durch das taunasse Gras, bleibt immer wieder stehen, pflückt etwas und riecht daran. „Wilder Oregano, Majoran, Vogelmiere, Sauerampfer“, sagt er. Dann verschwindet er im Unterholz, raschelt und rupft, taucht mit einer Hand voll Waldmeister wieder auf. „Die Vanille des Waldes“, ruft er jetzt, „und dort unten am Fluss wächst Bachbunge, sehr saftig, sehr knackig, etwas bitter, perfekt für einen Salat.“ Genüsslich schiebt er sich die Blätter in den Mund.
Jean-Marie Dumaine ist ein kleiner Mann mit einer großen Nase und einem runden Bauch. Seine Brille baumelt um seinen Hals wie ein Fernglas. „Was sammeln Sie denn da?“, wollen Wanderer wissen, denen er unterwegs begegnet. Und dann beginnt er zu erzählen und erklärt ihnen den Unterschied zwischen dem schmackhaften Wiesenkerbel und dem giftigen Schierling, er zeigt Labkraut, Mädesüß oder Pestwurz. „Bitte sehr, probieren Sie doch mal!“ Für einen Augenblick nimmt er die Menschen mit in seine Welt.
Heute hat der 56-Jährige weniger Zeit. Er schwärmt noch ein bisschen vom Wiesenschaumkraut, das nur eine Woche im Frühling blüht und wie Meerrettich schmeckt. Aus den Blüten wird er einen rosa Senf machen. Zehn Kilo will er bis zum Mittag gesammelt haben, da die Pflanzen später zu trocken werden. Zwei Tage schon ist Jean-Marie Dumaine auf den Feuchtwiesen des Ahrtals unterwegs. Über 45 Kilogramm Wildpflanzen haben er und seine zwei Mitarbeiterinnen gepflückt. Knoblauchsrauke, Bärenklau, Orientalischer Rucola, Pimpernelle, Bärlauch, Baldrian, Brennnessel, Schafgarbe, Zahnwurz, Beifuß und Gänsekresse. 1000 Gläser Wildkräuter-Pesto wird er daraus machen.
„Ich bin Entdecker“, sagt der Franzose, „ich bin auf der Suche nach versteckten Aromen der Natur.“ Jean-Marie Dumaine ist so etwas wie der Pionier der Wildkräuterküche in Deutschland. Er macht heimische Landschaften essbar. Aus Blättern, Blüten, Wurzeln und Früchten werden genussvolle Gerichte. „Das ist Urküche“, sagt er, „denn es ist ja nicht neu, was ich mache. Es wurde bloß vergessen.“ Von April bis September ist er fast täglich auf den Auen und in den Wäldern. Im Herbst beginnt die Zeit für Schlehen oder für die Wurzeln des eiweißhaltigen Spitzwegerichs. Und selbst im Winter findet er robuste Pflanzen wie Wicke, Weinbergkresse oder Persischer Ehrenpreis, der bereits im Januar blüht.
Sinzig, eine Kleinstadt mit 15.000 Menschen, liegt zwischen Koblenz und Bonn, dort wo die wilde Ahr in den begradigten Rhein mündet. Das milde Weinbauklima, die vulkanischen Böden der Eifel, das besonders fruchtbare Mündungsgebiet – die Gegend um Sinzig bietet eine in Deutschland ungewöhnliche Artenvielfalt. „Ein wilder Schatz“, schwärmt Jean-Marie Dumaine, „das ist, als würde man einen neuen Planeten entdecken.“ Etwa 1700 Wildpflanzen wachsen hier, über 200 kennt der Franzose. Rund die Hälfte verwendet er je nach Jahreszeit in seiner eigenwilligen Naturküche.
Und für die Gäste seines Restaurants, dem „Vieux Sinzig“, wird der Besuch zu einer Expedition durch die heimische Botanik. „Den Geschmack bestimmt zu 100 Prozent die Natur“, sagt Dumaine. Kaum jemand sonst betreibt einen derartigen Aufwand. Eine Mitarbeiterin ist für nichts anderes als für das Sammeln von Pflanzen zuständig. Pflücken, sortieren, reinigen, lagern, verarbeiten. „Kochen mit Wildpflanzen ist Luxus“, sagt er, „die Kräuter aber machen den großen Unterschied.“ Also finden sie sich in jeder seiner Kreationen und ziehen sich wie ein grüner Faden durch seine Menüs.
Als Vorspeise: Lachstatar mit knusprigen Schlüsselblumenblättern oder Vogelmierensuppe mit Maisravioli. Als Hauptgang: Huflattich-Kartoffel-Gratin oder Eifelkalbsrücken mit Waldlakritz-Sauce, Pestwurz und Mangold. Und als Dessert: Japanischer Knöterich im Knuspermantel mit Veilchensorbet auf Zitrusfrüchtesalat oder Löwenzahn-Tiramisu. Was sich exotisch anhört, ist bodenständiger, als man glauben möchte. Dumaine mutmaßt: „Es gibt so viele versteckte Plätze in dieser Region. Manchmal glaube ich, wir sind blind in unserer eigenen Heimat, da wir nur noch in die Ferne gucken.“ Mit seiner regionalen Wunderküche will er Verbindungen schaffen, zu dem Ort, an dem man lebt.
Per Hustensaft zurück zur Natur
Jean-Marie Dumaine ist in einem normannischen Dorf auf dem Bauernhof der Eltern als erstes von neun Kindern geboren. Er lernte Koch, ging zur Marine, um die Welt zu sehen. Doch ein Admiral aus Brest stellte ihn als privaten Küchenmeister ein und so blieb er an Land. 1975 kam er erstmals ins Ausland, nach Deutschland, wo er in einem Hotel in Andernach kochte. Vier Jahre später schon eröffnete er das „Vieux Sinzig“. Und 1985 wies ihm ein Hustensaft mit Tannenzapfensirup den Weg in die Natur. „Das war der erste Anstoß“, blickt er zurück. Er pflückte die zarten, noch hellgrünen, jungen Spitzen einer Fichte und probierte. „Damals bin ich durch eine Tür in eine andere Welt gegangen“, beschreibt er das harzig-zitronige Aroma der Nadeln, „so schmeckt der Wald.“ Heute legt er getrocknete Tannenspitzen in Essig ein und gibt sie zu Salat, in Saucen oder zu Wild. Er macht Gelee oder Senf daraus. „Zu Beginn gab es keine Basis, kein Wissen, keine Bücher“, erzählt er, „ich musste alles selber lernen und wurde immer erfinderischer.“
Gemeinsam mit seiner Frau Colette leitet er das Restaurant mit 18 Angestellten. Sein Neffe Yoann Hue hat vor vier Jahren die Rolle des Küchenchefs übernommen. Nun kann sich Jean-Marie Dumaine noch intensiver seiner Manufaktur widmen. Rund 20.000 Gläser befüllt er im Jahr. 50 Produkte finden sich in seinem Delikatessen-Sortiment: Pestwurz-Chutney, Löwenzahnblüten-Gelee, Kapuzinerkressen-Pesto. Er pendelt zwischen Küche, Wald und Wiese. Er sagt: „Die Natur ist voller Botschaften, man muss sie nur finden und erzählen.“
Es ist nicht zu überhören, dass Jean-Marie Dumaine Franzose ist. Er ist sozusagen ein Vorzeige-Franzose, spricht Deutsch mit starkem Akzent. Das H zu Beginn eines Wortes lässt er weg, manchmal verschluckt er auch das E am Ende. Regelmäßig verwechselt er Artikel. Und wenn er von der Natur spricht, sagt er „Natür“. Er klingt so, wie es Deutsche von einem Franzosen erwarten, der noch nicht sehr lange in Deutschland lebt. Dumaine müsste eigentlich besser sprechen. Doch ein bisschen spielt er auch den perfekten Franzosen für seine Gäste. Denn sein charmant genuschelter Singsang verheißt auch immer mehrgängige, nicht enden wollende Menüs und Rotwein zu jeder Tageszeit. Dumaines Stimme macht sehr schnell Appetit.
Viele seiner Gäste fragen sich im Restaurant oft schon zu Beginn, ob die Tischdekoration aus Basilikum, Rosmarin, Minze und Chilischoten schon die Vorspeise ist. Die Wenigsten wissen, dass man Brennnesseln oder Löwenzahn essen kann, sie können auch nur wenige Bäume benennen oder Blüten bestimmen und haben Angst, etwas zu pflücken und zu essen, da es giftig sein könnte. „Wir haben es verlernt, mit der Natur zu leben“, sagt Jean-Marie Dumaine, „ich versuche, den Leuten die Angst vor dem Unbekannten zu nehmen und hole die unendlichen Möglichkeiten zurück.“
Also serviert er einen Salat aus Kamille, Pimpernelle, Seifenkraut, Wicken, Bärlauchblüten, Scharfgarbe, Geißfuß, Knoblauchsrauke und Estragon. Und so manch staunender Gast verliert angesichts dieser berauschenden Vielfalt den Überblick. „Einige sind überfordert“, gesteht Dumaine. Denn auch viele Gaumen sind an seine experimentellen Variationen und die bittere Note mancher Kräuter nicht gewöhnt. „Unsere Küche muss erklärt werden und ist nur schwer zu vergleichen“, sagt er, „doch solange man offen und neugierig bleibt, wird man bei mir auf eine Entdeckungsreise gehen.“
Der „Gault Millau“, der unter Köchen ebenso geliebte wie gehasste Restaurantführer, gibt dem Vieux Sinzig 16 Punkte von 20 möglichen und nennt Jean-Marie Dumaine eine „Event-Maschine“. Gestern 1000 Gläser Pesto, heute 20 Kilo Tannenspitzen, morgen eine Kräuterwanderungen mit 70 Teilnehmern. „Das sind echte Fans“, freut er sich. Also muss er auch regelmäßig Autogramme geben oder eines seiner Kochbücher signieren. Er genießt das. Seine Widmungen bestehen aus vielen Schwüngen und noch mehr Bögen. Und zum Abschluss pustet er immer noch einmal leicht darüber, damit das Geschriebene zwischen den Seiten nicht verwischt.
Jean-Marie Dumaine hat eine Berühmtheit erlangt, nicht bloß in Sinzig. Die Medien haben ihn entdeckt, oft ist er im Radio zu hören oder im Fernsehen zu sehen. Und der Sinziger Bürgermeister meinte neulich sogar, dass der Kräuterkoch nach Barbarossa die zweitbekannteste Persönlichkeit der Stadt ist. „Die nächste freie Straße wird wohl nach mir benannt“, sagt Jean-Marie Dumaine und grinst. Vermutlich wird diese in einem Neubaugebiet liegen. Ein Feldweg wäre ihm lieber. Er sagt: „Isch bien viel lie-beer in die Natür.“ Man glaubt es ihm sofort – dann bekommt man Hunger.