Geschwätzigkeit ist anderswo. Das Bundeskanzleramt erscheint als Ort der Diskretion. Seinen Mitarbeitern verbietet sich das gesprochene Wort ohne vorherigen Einsatz einer Goldwaage – erst recht, wenn Journalisten im Haus sind. Das bekamen GEO-Special-Reporter Stefan Schirmer und Fotograf Ronald Bonß zu spüren, als sie sich über Wochen hinweg immer wieder mit Gesprächspartnern in Angela Merkels Machtzentrale trafen: Nicht nur politische Beamte, sondern auch Gärtner oder Hausmeister berichteten über ihren Arbeitsalltag meist mit der Verschlossenheit von Diplomaten am Rande heikler Atomwaffensperrvertrags-Verhandlungen.
Trotz der Diskretions-Hürden gelang es dem GEO-Special-Team, sich einen Eindruck vom Alltag im Kanzleramt zu verschaffen, wie er für Journalisten selten möglich ist. Dabei kamen die Turbulenzen der Weltfinanzkrise zugute. Der Zwang zum Improvisieren, das Stakkato aus Staatsbesuchen und Krisentreffen ließen im Kanzleramt einige ungeschützte Momente der Beobachtung für den Reporter entstehen.
So erfuhr Schirmer etwa den neuesten Stand der umstrittenen „Abwrack-prämie“. Und kurz nach dem Rücktritt des Bundeswirtschaftsministers sah er in der Kanzlerküche, wie souverän das dortige Personal mit dem Wechsel umgeht: Auf der Kabinettsliste, die Vorlieben der Top-Politiker für Kaffee oder Tee auflistet, wurde der alte Minister einfach durchgestrichen und der neue Name mit einem Kugelschreiber eingefügt.
Bei der Recherche benötigten die Reporter viel Geduld. Aus Sicherheitsgründen dürfen sich Besucher des Hauses nicht unbeobachtet darin bewegen. In längeren Pausen zwischen zwei Terminen wurden die Reporter einfach auf einer Sitzgruppe „geparkt“. Bisweilen auf der Kanzler-Etage, wo die Hausherrin allein und gedankenverloren an ihnen vorbeiging. Dort oben im siebten Stock erzeugt die Architektur eine merkwürdige Abgehobenheit und Stille. Oder wie Amtschef Thomas de Maizière zu den Besuchern in erfrischender Offenheit sagte: „Hier drin ist alles wie in Watte.“
Ihre Reise ins Zentrum der Macht führten Schirmer und Bonß in Büros und sogar in den Gymnastikraum für Merkels Bürokraten. Vom Bankettsaal vor einem Staatsempfang ging es direkt in die Behördenkantine, wo bei „hausgemachter Fischfrikadelle mit Hausfrauensoße“, Bratkartoffeln und Balkansalat (für 2,20 Euro) Regierungs-Interna besprochen werden.
Angela Merkels Speisezimmer im obersten Stockwerk, in dem die Spitzen der Großen Koalition regelmäßig ums politische Klein-Klein feilschen, nahmen die Reporter ebenso in Augenschein wie die Tiefgarage, in der allerlei Strategien, Intrigen, Sachverhalte und Geheimnisse unter lautem Rumpeln zerstört werden: in der riesigen Schredderanlage, wo fünfmal pro Woche Politik ein letztes Mal Staub aufwirbelt. Geheimakten von ganz oben, etwa aus dem Büro Merkel, so erfuhr Schirmer, kommen unten bereits zerkleinert an. Doppelt gehäckselt hält wohl besser.