Anzeige

Interview "Die Hirnforscher übertreiben"

Der Philosoph Jan Slaby erforscht an der Freien Universität Berlin die "Sprachen der Gefühle". Er setzt sich für eine kritische Begleitung der Neurowissenschaften ein
Interview: Die Aufmacher-Doppelseite zum Thema aus GEO 9/2014
Die Aufmacher-Doppelseite zum Thema aus GEO 9/2014

GEO: Sie beklagen in Ihren Arbeiten die "Cerebralisierung" der Gesellschaft. Was meinen Sie damit?

Jan Slaby: Ich meine damit die Tendenz, alle möglichen Phänomene auf Prozesse im individuellen Nervensystem zurückzuführen: Kunst - ein Neuronengeschehen; Politik - ein Resultat von Hirnprozessen; Liebe, Gewalt, psychische Störungen - all dies sollen letztlich Vorgänge im Gehirn sein oder auf solchen beruhen. Das Gehirn funktioniert bisweilen wie ein Staubsauger, der alles an sich zieht, was in der heutigen Welt relevant ist.

Wie erklären Sie sich diesen Boom?

Das Gehirn ist eine dankbare Projektionsfläche: Es ist einerseits klar, dass es immens wichtig ist für die Art und Weise, wie wir Menschen funktionieren. Das Gehirn ist andererseits noch so wenig verstanden, dass man alles Mögliche hineindeuten und hineinspekulieren kann. Man muss daher immer sehr genau schauen, wer etwas davon hat, dass Phänomene im Gehirn verortet werden. Ein Beispiel: Just in dem Moment, als England Probleme mit gewalttätigen Jugendlichen in verarmten Wohnvierteln bekam, begann dort die Erforschung des "Teenager-Gehirns" zu boomen. Anstatt die Probleme der Kids in der verheerenden Sozialpolitik neoliberaler Regierungen zu suchen, ließ sich nun über die Gefahrenpotenziale des adoleszenten Gehirns diskutieren. Da werden komplexe soziale Problemlagen auf einfache individuelle Hirnmechanismen reduziert. Leider haben viele Hirnforscher durch die Übertreibung ihrer Ergebnisse zu dieser verkürzten Sicht beigetragen.

Was halten Sie vom Human Brain Project (HBP) der EU, das in wenigen Jahren das menschliche Gehirn im Computer simulieren will?

Das HBP wird weder praktisch-technisch noch in der Theorieentwicklung auch nur in die Nähe dessen kommen, was es brauchte, um ein wissenschaftliches Verständnis zum Beispiel des menschlichen Bewusstseins zu erlangen. Man darf sich hier von der Werberhetorik der Projektleitung nicht blenden lassen. Außerdem gibt es in der Neurowissenschaftsszene aktuell extremen Gegenwind - Kooperationspartner springen ab, die EU wird unter Druck gesetzt, das Projekt womöglich noch zu stoppen. Viele Neurowissenschaftler halten die theoretischen Grundlagen des HBP für problematisch und einige der Projektziele für extrem unrealistisch. Aufgrund der schieren Größe würde das HBP die Forschungsagenda der Neurowissenschaft auf lange Sicht grundlegend prägen, deshalb ist die Kontroverse so heftig.

Welche Gefahren birgt der Trend in sich, den Menschen immer stärker vom Hirn her erklären zu wollen?

Unser Selbstverständnis bekommt eine gefährliche Schlagseite in Richtung des Individuell-Biologischen, das dann als unveränderlich betrachtet wird. Andere Formen des Wissens über den Menschen werden hingegen diskreditiert. Aber Besserung ist in Sicht, weil die Qualitätsstandards und die interne Kritik innerhalb der Neurowissenschaften in den letzten Jahren spürbar strenger geworden sind. Wir fallen heute nicht mehr ganz so leicht auf bunte Hirnbilder herein wie noch

vor 15 Jahren.

Interview: Philosoph Jan Slaby
Philosoph Jan Slaby

Die ganze Geschichte "Wie das Ich in den Kopf kommt" von Christian Schwägerl erschien im aktuellen GEO, als Heft 09/2014 am Kiosk oder als eMag für iPad, Android oder den Browser.

GEO Nr. 09/14 - Die Suche nach dem Ich

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel