Die Mission zweier Berliner Vogelnarren beginnt mit einer sehr speziellen Liebesgabe: Oskar Heinroth schenkt seiner Angebeteten Magdalena zur Verlobung 1902 keinen Ring, er schenkt ihr: eine Mönchsgrasmücke. Der kleine gefiederte Hausgenosse ist mehr als ein Versprechen. Er wird gewissermaßen zum Schicksalsvogel – für Magdalena und Oskar, aber auch für die Ornithologie, die Wissenschaft von den Vögeln. Er steht am Beginn eines unglaublichen Forschungsprojekts.
Das Paar fasst nämlich den Entschluss, sämtliche in Mitteleuropa heimischen Vogelarten eigenhändig aufzupäppeln. Oskar und Magdalena werden Küken von 286 Spezies großziehen, in ihrer Berliner Stadtwohnung. Zwischen 1904 und 1932 machen sie sich zu Ersatzeltern von insgesamt etwa 1000 Vogelkindern. Und die Rede ist keineswegs nur von Amsel, Drossel, Fink und Star. Zu den heimischen Arten gehören ja noch ganz andere Kaliber. Seeadler und Kranich zum Beispiel.
Weshalb dieser irrwitzig anmutende Aufwand? Weil das Forscherpaar, unter anderem im Zusammenleben mit der Mönchsgrasmücke, zu der Einsicht gelangt ist: „Jeder Vogel gibt unzählige Rätsel auf, und oft lassen sie sich erst lösen, wenn man dem Tier ganz nah ist.“ Oskar und Magdalena übernehmen die Rolle der Vogeleltern und ziehen ihre Forschungsobjekte vom Moment des Schlüpfens an groß, damit diese die beiden Menschen als ihresgleichen anerkennen. So werden sie das Wesen dieser Geschöpfe tiefgründiger erforschen, als es je zuvor ein Mensch getan hat; sie wollen sich „einen Begriff davon machen, wie es in dem Kopf eines Vogels aussieht“. Damit legen sie die Fundamente einer neuen wissenschaftlichen Disziplin: die der vergleichenden Verhaltensforschung.
Leibliche Kinder sind dem Paar nicht vergönnt. Das mag ein zusätzlicher Grund für die Hingabe sein, mit der die beiden sich den Vogelkindern zuwenden. Und der Seeadler etwa verhält sich in seinen ersten Lebenstagen tatsächlich wie ein Baby: „Er hatte es sehr gerne, wenn man ihn möglichst so lange in den hohlen Händen hielt, bis er eingeschlafen war“, notiert Oskar Heinroth. „Legte man ihn zu früh in sein Nest zurück und ging fort, so fing er an zu wimmern, und es kam dann sogar vor, dass er vor Unruhe aus seinem Körbchen herauskrabbelte.“ Doch das artübergreifende Zusammenleben ist keineswegs immer ein Familienidyll. Der Habichtskauz etwa zeigt im Alter von einem Jahr einen ausgeprägten Hang zu Aggressionen. Als Oskar Heinroth der großen Eule einmal zu nahe kommt, „bohrten sich die acht Krallen in meinen Hals und Nacken, sodass ich geradezu blutüberströmt flüchten musste“. Magdalena hingegen wird durchaus freundlich aufgenommen: „als Mitkauz“, wie Oskar, vielleicht ein wenig eifersüchtig, notiert.
Hingegen benehmen sich die Kraniche beherrscht. Die majestätischen, mehr als ein Meter großen Vögel erhalten regelmäßig Ausgang. Sie lernen, die Treppen zum Balkon der heinrothschen Wohnung hinauf- und herabzusteigen. Man sieht Oskar Heinroth, wie er mit zwei ungefähr zwei Jahre alten Kranichen durch den Zoo flaniert; ein tadellos gekleideter Herr mit Hut, Gehrock und gewienerten Schuhen, der einem der Vögel, väterlichen Stolz im Blick, ein Leckerli zusteckt. Über Jahre schwingen die Kraniche sich auf, täglich ein paar Runden um den Turm der Gedächtniskirche zu drehen.
Gewichtszunahme, Flügelwachstum, Größe, Details bis hin zum Farbmuster im Racheninnern der um Futter bettelnden Jungvögel – alles zeichnen die Heinroths akribisch auf. Sie studieren ihre Schützlinge unter Labor-, nein: unter Wohnzimmerbedingungen. Sie „mikroskopieren“ das Verhalten der Tiere, sagt bewundernd einer ihrer Kollegen.
Bei der Aufzucht der Jungvögel („eine unglaubliche Geduldsprobe und ungemein schwierig“) zeigt Magdalena, die tierbegeisterte Tochter eines Berliner Oberbaudirektors, geniales Geschick – und keinerlei Scheu. Junge Tauben etwa nehmen Nahrung auf, indem sie ihren Schnabel in den der Eltern schieben, woraufhin diese ihren Kropfinhalt heraufwürgen. Und im Hause Heinroth? „Die einfachste Art des Großfütterns ist die, dass man gequellte feine Körner in den Mund nimmt und die Taubeneltern nachmacht.“ Die Nestlinge stecken ihren Schnabel zwischen Magdalenas Lippen „und lernen es rasch, diese Futterquelle entsprechend zu nutzen“.
Die Schützlinge danken ihrer Pflegemutter mit Anhänglichkeit, manchmal auch mit mehr. Ein von ihr gepäppelter Wachtelkönig etwa möchte sie unbedingt zu seiner Wachtelkönigin machen. Er putzt sich demonstrativ vor ihr, pickt zart an ihren Fingern, überreicht ihr Futter. „Wurde ihm dann der Handrücken hingehalten, so stieg er darauf, fasste die Haut zart mit dem Schnabel, und es kam seinerseits zu einer richtigen Begattung.“
Was sich in der Vogel-WG abspielt, ist selbst für die „wilden Jahre“ der Hauptstadt skurril
Sex mit einem Wachtelkönig. Was sich in der Wohnung der Heinroths im Berlin vor dem Ersten Weltkrieg und dann in den 1920ern abspielt, ist selbst für jene Zeit, die „wilden Jahre“ der Hauptstadt, skurril. Der Akt findet halb öffentlich statt – im erlauchten Kreis der Ornithologischen Gesellschaft. Das heinrothsche Zuhause ist nicht nur eine Vogel-WG, es wird immer mehr auch „ein Magnet für führende Biologen aus aller Welt“, so der Zoologe Erwin Stresemann.
Es geht Heinroth vor allem um die Unterscheidung von Instinkt und Prägung, um die Frage also, „was ist angeborene Triebhandlung, was muss das Einzelwesen durch Erfahrung von seinen Artgenossen lernen“. Soziale Signale, Balz, Brutgeschäft – er ist der Erste, der all das an Vögeln aus nächster Nähe beobachtet. Und entwickelt dabei ein begriffliches Instrumentarium, das die Wissenschaft noch heute nutzt, „Imponierstellung“ etwa oder „Triumphgeschrei“.
Es ist eine Zeit des wissenschaftlichen Aufbruchs, über fast alle Disziplinen hinweg. Im Berlin jener Jahre leben und forschen 29 Nobelpreisträger, unter ihnen Jahrhundertgenies wie Albert Einstein. Es ist aber auch eine Zeit der gewaltsamen politischen Umwälzungen. Auch sie prägen die Arbeit Heinroths, mindestens zwei Mal, und das auf äußerst tragische Weise.
Die erste Tragödie beflügelt Oskar Heinroths Karriere. Er studiert zunächst Medizin, seine Eltern wollen es so, dann Zoologie. Im Jahr 1898 wird er Assistent am Berliner Zoo, unbezahlt, aber das ist dem 27-Jährigen gleichgültig. Hier kann er ausgiebig an Tieren forschen, die Möglichkeiten sind fantastisch, der Berliner Zoo gilt zu jener Zeit als der größte der Welt, was Artenreichtum anbelangt.
Dann eröffnet sich die Chance auf eine Mission, von der junge Wissenschaftler eigentlich nur träumen können: Als Expeditionsarzt und Zoologe nimmt Heinroth 1900 an der später so genannten „Ersten Deutschen Südsee-Expedition“ teil. Sie führt in eine völlig unerforschte Weltregion – und in einen Albtraum.
Die Expedition ist ein privates, etwas spleeniges Unternehmen. Bruno Mencke, Erbe eines Schokoladen- und Zuckerfabrikanten aus Braunschweig, rüstet die Dampfyacht „Eberhard“ auf eigene Kosten zu einem modernen Forschungsschiff um. Ziel: der Bismarck-Archipel, ein ferner Außenposten des deutschen Kolonialreichs; eine Inselgruppe in Melanesien, heute ein Teil Papua-Neuguineas. Mitte März 1901 landen die Männer auf der Insel Mussau. Und am Morgen des 1. April schleudern die Einheimischen Speere auf die Eindringlinge.
Die Ursache des blutigen Zusammenstoßes bleibt unklar. Möglicherweise haben die Europäer in ihrer Unkenntnis gegen lokale Gesetze verstoßen; vielleicht, indem sie als heilig geltende Palmen fällen ließen. Jedenfalls wird Mencke von sechs Wurfgeschossen getroffen und erliegt seinen Verletzungen; insgesamt sterben etwa 20 Menschen bei dem Kampf. Heinroth leitet den Rückzug der Expedition ein, mit einem Speer in der Wade.
Doch das ist lediglich der Auftakt zu einer noch weit schrecklicheren Tragödie: Die Deutschen nehmen den Angriff der „Eingeborenenstämme“ nämlich als Anlass für ein Massaker. In einer „Strafaktion“ lassen sie 81 Inselbewohner niedermetzeln, darunter Frauen und Kinder.
Heinroth scheint nicht allzu sehr erschüttert von dem Massenmord auf der Südseeinsel. Er kehrt, beseelt von Forscherdrang, auf einem Frachter nach Europa zurück. An Bord führt er eine Menagerie von 250 lebenden Tieren mit sich, darunter zwei Kasuare, ein Schabrackentapir und zwei Tiger. Die Kisten mit Hunderten Vogelbälgen und Präparaten treffen später ein.
Die blutige Expedition macht Schlagzeilen – und den Namen Oskar Heinroth reichsweit bekannt. 1904 tritt er die nun eigens geschaffene Stelle eines Direktorialassistenten am Berliner Zoo an. Und er heiratet seine Magdalena.
Der auftrag an Heinroth lautet: für den Zoo einen modernen Aquariumskomplex errichten. Es entsteht ein dreistöckiger Bau mit zentraler Tropenhalle. Die Terrarien und Aquarien sind Biotope im Kleinen, die Besucherräume abgedunkelt; heute üblich, damals höchst innovativ. So unterschiedliche Prominente wie Kaiser Wilhelm II. und Josephine Baker bestaunen die exotischen Welten hinter Glas. 1913 beziehen die Heinroths ihre Dienstwohnung im neuen Aquariumskomplex an der Budapester Straße. Da ist nun Platz für noch mehr Vögel, in einem eigenen Raum der Wohnung, dem Vogelzimmer, und auf dem vergitterten Balkon.
Die Besetzungsliste der Vogel-WG liest sich einmal im Jahr 1927 so: zwei Rohrdommeln, eine Trappe, ein Seeadler, drei Purpurreiher, fünf Lachseeschwalben, ein Seeregenpfeifer, vier Säbelschnäbler, zwei Kampfläufer, zwei Fischadler, zwei Grauspechte, zwei Wachteln, eine Sperbergrasmücke, vier Löffler. „Das reicht!“, stöhnt sogar der vogelbegeisterte Heinroth. Denn das artenreiche Miteinander wirft viele Alltagsfragen auf.
Beispielsweise diejenige nach der richtigen Mischung: „Zwei Reiher- und drei Raubvogelhorste, ein paar Aufzuchtkästen mit Bekassinen, Rebhühnern oder Enten und einige Blumentöpfe mit Kunstnestern, in denen Goldhähnchen, Dohlen oder Lerchen sitzen, kann man zwar ganz gut zugleich unterbringen und betreuen, aber ein ausgeflogener Habicht kröpft bald in aller Seelenruhe den ganzen ihm erreichbaren Vogelbestand.“
Oder die Frage nach dem Verbleib der erwachsenen Vögel: Viele geben die Heinroths an Liebhaber, Tierparks oder wissenschaftliche Institute, manche essen sie. Wie den Birkhahn, der sich, durch einen Unfall verstorben, „beim Verzehren, gut gebraten, als sehr schmackhafter Zeitgenosse herausstellte“.
Der Vandalismus junger Spechte ist nicht so leicht zu ertragen
Nicht nur Dreck (Kormorane sind besonders schlimm) und Lärm („das Geschrei der Flussseeschwalben ist so fürchterlich, dass Besucher schon nach wenigen Minuten entsetzt davonlaufen“) ertragen die Heinroths. Sie erdulden auch den Vandalismus ihrer Mitbewohner. „Wir erinnern uns noch mit Schrecken unseres Kleinspechts, der sich in kurzer Zeit durch wuchtige Schnabelhiebe einen Eingang in das Schrankinnere hämmerte oder, an der Einmündung eines Gasrohres hängend, den Stuck so weit abmeißelte, dass die Strohhalme der Zwischendecke herunterhingen.“
Oskar Heinroth leidet zu allem Überfluss unter einer schweren Vogelallergie. Sie bereitet ihm Atemnot, sodass er nachts eine Sauerstoffflasche benötigt. Nur auf Reisen lassen die Asthmaanfälle nach. Da trifft es sich gut, dass er nun immer häufiger die Vogel-WG verlassen muss, um neue Mitbewohner einzusammeln.
Anfangs finden die Heinroths Nester weit verbreiteter Arten noch in der Umgebung – nach langer Suche sogar das eines Goldhähnchens, des kleinsten heimischen Vogels. Lachmöwen erbrüten sie aus „Eiern, die wir in einer Feinkosthandlung kauften“. Doch es wird zunehmend aufwendiger, an Nachschub zu gelangen. Von immer weiter her reisen die WG-Bewohner an, ein Netzwerk von Vogelkundlern, Förstern und Naturfreunden unterstützt die Heinroths. Felsenschwalben kommen im Nachtzug aus Innsbruck, Lummeneier per Eilpost aus Helgoland, die Kolkraben stammen aus dem Baltikum. Oft genug begibt sich Oskar Heinroth selbst auf Akquise. „Auf großen Bahnstrecken bin ich nachts immer im Schlafwagen erster Klasse gereist“, erinnert er sich, „denn nur da kann man ungestört brüten, das heißt, etwa alle Stunden Licht anmachen und nach der Wärme des Reisebrutofens sehen.“ So schlüpft beispielsweise ein Eiderentenküken im D-Zug von Stockholm nach Berlin.
Und dann ist da ja noch eine weitere Großaufgabe zu bewältigen: das systematische Fotografieren aller Schützlinge. Mit seiner Plattenkamera dokumentiert Heinroth das Aufwachsen der Tiere und deren Verhalten in den unterschiedlichen Lebensstadien. Auch hier sind Oskar und Magdalena ein Dreamteam. „Beim Fotografieren betreute sie den Vogel, brachte ihn in bestimmte Stellungen und beaufsichtigte ihn dauernd, während ich die Platte entwickelte und nachsah, ob noch weitere Aufnahmen nötig seien.“
Es ist ein Geduldspiel. „40 bis 50 Mal“ wird die Waldohreule wieder auf ihren Klotz gesetzt; allein mit diesem einen Vogel arbeiten sie „drei bis vier Wochen lang täglich etwa zwei Stunden“. Bis Oskar Heinroth endlich die Bilder hat, die er sich wünscht.
Am Ende sind insgesamt 15000 Glasplatten belichtet. Die Auswahl der besten Motive erscheint in einem Opus magnum der Ornithologie. Titel: „Die Vögel Mitteleuropas – in allen Lebens- und Entwicklungsstufen photographisch aufgenommen und in ihrem Seelenleben bei der Aufzucht vom Ei an beobachtet von Dr. Oskar und Frau Magdalena Heinroth“.
Tägliche Pensum der Heinroths wächst ins Übermenschliche
Die vier schweren Bände, mit Darstellungen von 286 Vogelarten und etwa 4040 Fotos, erscheinen zwischen 1924 und 1933. Die Texte sind einerseits nüchtern akademisch, gleichzeitig aber durchdrungen von tiefer Zuneigung zum Forschungsobjekt. Alle Vögel haben einen Namen bekommen: Lilli, die Waldohreule, Max-Marie, die Mantelmöwe, Florian, der Flussregenpfeifer. In seinen besten Passagen wird Oskar Heinroth zum Naturschriftsteller. Den Begriff der „Stimmfühlung“ beispielsweise (also die ständig ausgestoßenen Kontaktrufe einer Gruppe von Vögeln) erklärt er auf anschauliche Art: „Jedes Tier weiß immer, wo die anderen sind. Es ist, als habe jedes ein Glöckchen um.“
Mit der Arbeit am Buchprojekt wächst das tägliche Pensum der Heinroths allmählich bis ins Übermenschliche: Vögel füttern vor Tagesanbruch, morgens gemeinsam fotografieren, danach ist er für das Aquarium da, und sie kümmert sich um die gefiederte Menagerie, in den Abendstunden dann gemeinsames Arbeiten am Buch, bis nach Mitternacht. Hinzu kommen Publikationen, Vorträge und der Vorsitz in diversen Fachgesellschaften. Oskar Heinroth kollabiert mehrmals wegen Schlafmangels und Unterernährung, nimmt Schlaf- und Aufputschmittel.
Und dann der Schicksalsschlag: „Als nach 28-jähriger Aufzuchtarbeit die letzten Vögel großgezogen waren und im Sommer 1932 die Manuskripte fertig vorlagen, unternahm Magdalena die erste Ferienreise seit Jahren“, schreibt er. Sie macht Urlaub im Donaudelta in Rumänien, einem Paradies für Vogelfreunde, natürlich. Und stirbt dort, völlig unerwartet, an akutem Darmverschluss. Das vollendete vierbändige Werk konnte sie nie in Händen halten.
Das letzte Jahrzehnt beginnt für Oskar Heinroth mit neuem Glück: 1933 heiratet er wieder, die Zoologin Katharina Berger. Er wird zu einem gefragten Redner, bald tritt er beinahe täglich auf, meist vor vollen Sälen. Er erfindet das „tönende Buch“, den Vorläufer des Hörbuchs, auf Schallplatte. Der Titel „Gefiederte Meistersänger“, erschienen 1935, wird ein Verkaufserfolg. Ein zweiter Band folgt, nun mit einem Geleitwort von „Reichsjägermeister“ Hermann Göring.
Göring, der Vertraute Hitlers. Die Heinroths sind unpolitisch; der NSDAP treten sie nicht bei, sie haben jüdische Freunde, für die sie sich einsetzen. Andererseits nehmen sie hin, dass Juden der Zutritt zu ihrem Zoo verboten ist.
Am 23. November 1943 bricht im Berliner Zooviertel die Hölle los. Bomben treffen das Aquarium, Heinroths Lebenswerk geht in Flammen auf. Hungernd und frierend harrt das Ehepaar in einem feuchten, kalten Kellerraum der Aquariumsruine aus – es sind schließlich immer noch einige Tiere zu versorgen, die in der Trümmerwüste überlebt haben. Am 31. Mai 1945 stirbt Oskar Heinroth dort in den Armen seiner Frau.
Katharina Heinroth wird nach Kriegsende Leiterin des Berliner Zoologischen Gartens; die erste Frau auf diesem Posten in Deutschland. Aus den Ruinen birgt sie, was von Oskars Forschungsprotokollen und seinem fotografischen Schatz noch zu retten ist; den Nachlass übergibt sie der Staatsbibliothek. Doch Oskar Heinroths Erbe gerät in Vergessenheit – wie er selbst. Das Nachkriegsberlin hat andere Sorgen.
Außerdem: Oskar Heinroth war zwar ein hingebungsvoller, exzellenter Beobachter. Ein Theoriegebäude jedoch, das ihn hätte überdauern können, das errichtete er nie. Im Gegenteil – er hegte beinahe eine „Abneigung gegen jede Hypothesenbildung“, schreibt Konrad Lorenz, der in den 1950er Jahren zu einem der Vordenker der vergleichenden Verhaltensforschung wird.
Seit etwa 1930 stehen Heinroth und Lorenz in einer akademischen Vater-Sohn-Beziehung. Konrad Lorenz ist es, der viele von Oskar Heinroths Ideen aufnimmt, der sie weiterführt und theoretisch untermauert. Über seinen Mentor und Lehrmeister sagt er: „Heinroth war ein Heiliger seiner Forschung.“ Im Jahr 1973 erhält Konrad Lorenz den Nobelpreis für seine Leistungen auf dem Gebiet der Verhaltensforschung. Das Foto, das ihn als „Gänsevater“ zeigt, umringt von zutraulichen Graugänsen, die auf ihn geprägt sind, gilt als eine Ikone der Zoologie. Das Bild von „Kranichvater“ Heinroth hingegen kennt kaum jemand.
GEO-Reporter Fred Langer stützte sich vor allem auf die Recherchen von Karl Schulze-Hagen. Die meisten Zitate der Heinroths sind dessen Buch »Die Vogel-WG« entnommen. Naturfotograf Klaus Nigge reproduzierte die Originalaufnahmen Oskar Heinroths, um sie sodann in langwieriger Kleinarbeit am Computer zu restaurieren.