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Gentechnik: Die blinde Moral

Forscher glauben, dass blinde Hennen in Käfighaltung "glücklicher" sind. Sollten wir also blinde Hennen züchten? Die Bochumer Philosophin Kirsten Schmidt untersucht, warum die meisten Menschen intuitiv mit "Nein" antworten. Mit Umfrage und Forum

GEO: Frau Dr. Schmidt, ein Teil Ihrer preisgekrönten Doktorarbeit beschäftigt sich mit dem "Blind Hen Problem". Was ist das für ein Dilemma?

Schmidt: Hühner ohne Sehvermögen wären unter Umständen besser für das Leben in der intensivierten Geflügelhaltung geeignet, denn diese Tiere neigen weniger zu Federpicken und Kannibalismus als ihre normalsichtigen Artgenossen. Das Wohlergehen der blinden Hühner wäre aller Voraussicht nach verbessert, weil das schmerzhafte Schnabelkürzen wegfiele und die Tiere weniger Stress und Leid durch Angriffe von Artgenossen zu befürchten hätten. Dennoch würden wohl die meisten Menschen den Vorschlag spontan und entschieden ablehnen, durch biotechnische Manipulation oder gezielte Zucht blinde Hühner zu erzeugen. Als Philosophin versuche ich zu klären, um welche Art moralischen Urteilens es sich handelt und worauf sich diese Einstellung stützt.

Gentechnik: Die blinde Moral
© Henrik Reichelt

Interaktiv

Blinde Hühner, sagen Forscher, sind in Käfighaltung "glücklicher", weil sie weniger Aggressionen ausgesetzt sind. Sollten wir deshalb blinde Hühner züchten? Was spricht dafür, was dagegen? Wo liegen die Grenzen der gentechnischen Manipulation? Diskutieren Sie mit!

Rund zwei Drittel aller deutschen Hühnereier stammen aus Legebatterien
Rund zwei Drittel aller deutschen Hühnereier stammen aus Legebatterien
© Rainer Weisflog/www.d-foto.net

GEO: Tierzüchter denken doch nicht ernsthaft darüber nach, blinde Hühner zu züchten. Weshalb machen sich Philosophen Gedanken über Probleme, die es in der Realität gar nicht gibt?

Das „Blind Hen Problem“ steht in der Tradition des philosophischen Gedankenexperiments, bei dem zur Verdeutlichung einer Frage ein besonders anschauliches, wenn auch fiktives Beispiel gewählt wird. In diesem Fall soll es dazu dienen, die Grenzen einer tierethischen Argumentation aufzuzeigen, die sich hauptsächlich am Wohlempfinden der Tiere orientiert. Denn aller Wahrscheinlichkeit nach leiden blind geborene, nicht drangsalierte Käfighühner weniger als normalsichtige, gestresste. Ginge es nur um Leid-Verminderung, wäre die Zucht blinder Hühner also ein ethisch zulässiger Weg. Entscheidend ist aber, ob man aus ethischer Sicht trotzdem auch gute rationale Argumente findet, die im Sinne der Intuition gegen die Erzeugung blinder Hühner sprechen.

GEO: Genügt es nicht zu wissen, dass die Mehrheit der Bürger sich spontan gegen die Zucht blinder Hühner ausspricht?

Die Frage nach der Bedeutung von Intuitionen ist in der Ethik höchst umstritten. „Bauchgefühl“ und spontane Reaktionen sind keine Argumente und zur Rechtfertigung ethischer Positionen nicht geeignet. Wir können daher nicht sagen, die Zucht blinder Hühner sei moralisch falsch, nur weil wir sie spontan ablehnen. Andererseits können starke und verbreitete Intuitionen als Wegweiser dienen: Wenn sie allzu widerspenstig sind, sollte der Ethiker hellhörig werden und seine Theorien einer genauen Prüfung unterziehen.

GEO: Wie lässt sich die Ablehnung der Zucht blinder Hühner stichhaltiger begründen?

Es geht nicht nur darum, was ein Tier tatsächlich erleidet. Sprechen wir Tieren einen moralischen Eigenwert zu, also einen Wert, den diese Lebewesen um ihrer selbst willen haben, unabhängig von ihrem Nutzen für den Menschen, dann ist auch wichtig, was wir einem Tier vorenthalten. Durch künstlich erzeugte Blindheit nehmen wir dem Huhn vor allem die Fähigkeit, auf Einflüsse von außen angemessen zu reagieren und ein Gleichgewicht zwischen Selbst und Umwelt aufrechtzuerhalten. Damit verletzen wir die tierliche Integrität; ein triftige- rer Grund, sich gegen eine solche Züchtung auszusprechen, als die Vermeidung von Leid.

GEO: Ein anderer Weg wäre, die Bedingungen der Massentierhaltung zu ändern - weshalb beschäftigen Sie sich nicht damit?

Die Massentierhaltung ist ja bereits aus der gewohnten tierethischen Sicht, die Vermeidung von Leid und Schmerzen verlangt, zu kritisieren. Mir geht es darum, zu untersuchen, ob dieser Ansatz auch für die biotechnische „Anpassung“ als mögliche Zukunft der Massentierhaltung ausreicht oder erweitert werden muss. Darüber hinaus war es nie zuvor möglich, Tiere derart schnell genetisch zu verändern. Die Frage, ob es moralisch erlaubt ist, jede Art von Veränderung herbeizuführen, die uns nützlich erscheint, tritt daher heute besonders deutlich hervor. Und zwar nicht nur im Hinblick auf die intensivierte Tierhaltung, sondern auf die Tierzucht als solche. Zum Beispiel ist bei manchen Nutztieren, etwa Ebern und Geflügel, die Aggressivität gegenüber Artgenossen heute teilweise immer noch so hoch, dass durch spezielle Zuchtprogramme und unter Einsatz gentechnischer Methoden versucht wird, hier eine Veränderung zu erreichen. Für die Tiere selbst ist eine solche Reduktion der Aggressivität von Vorteil, da die passiveren Individuen einer Gruppe in Gefangenschaft sonst häufig an Unterernährung oder Verletzungen leiden.

GEO: Könnte man mithilfe moderner Gentechnik ein Muskelpaket züchten, das von einem auf Glück gepolten Gehirn gesteuert wird?

Ein solches Projekt würde die realen Möglichkeiten der Gentechnik wohl bei Weitem übersteigen. Aber ein ähnliches Gedankenexperiment gibt es in der tierethischen Diskussion bereits: Die animal microencephalic lumps (AMLs), „Tierklumpen“ mit einem minimalen Gehirn, also bewegungs- und empfindungslose Lebewesen, deren Eigenschaften und Fähigkeiten so weit reduziert sind, dass sie nur gerade noch die vom Menschen an sie gestellte Aufgabe erfüllen können – wie zum Beispiel Eier zu legen. Zwar hätten diese AMLs kein „auf Glück gepoltes Gehirn“, und damit keine positiven Empfindungen, aber eben auch keine negativen Empfindungen, die einer Nutzung Grenzen setzen könnten.

GEO: Wo liegen für Sie ethische Grenzen der Tierzucht?

Man sollte hier zweierlei unterscheiden. Einerseits gibt es Züchtungen, die ethisch auf keinen Fall vertretbar sind, weil sie zu einer starken Einschränkung des tierlichen Wohlergehens führen. Ein Beispiel dafür sind sogenannte Qualzüchtungen: Bei der gentechnischen Veränderung von Schweinen etwa sind massive Beschwerden wie Arthritis und Magengeschwüre aufgetreten, als man versuchte, Gewicht und Fleischqualität durch ein fremdes Gen aus Rindern zu steigern. Hier sind die ethischen Grenzen der Zucht vergleichsweise eindeutig und können meiner Meinung nach auch durch entgegengesetzte menschliche Interessen nicht aufgewogen werden. Anders ist es bei Fällen, die mit einer leichteren Einschränkung des Wohlergehens verbunden sind, oder mit einer gewissen Veränderung des Tieres. Ich denke, dass man hier die Frage nach der ethischen Grenze nicht pauschal beantworten kann und dass es aus tierethischer Sicht nicht sinnvoll ist, ein absolutes Verbot aller Modifikationen von Tieren durch den Menschen zu fordern.

GEO Nr. 05/08 - Was ist die ideale Schule?

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