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Wildtiere "Elche sind große Individualisten": Eine Forscherin über das faszinierende Verhalten der imposanten Hirsche

Elchbulle
Elche sind die größten Hirsche der Welt und bestens angepasst an ein Leben im kalten Norden. Einigen Tieren macht der Klimawandel inzwischen zu schaffen
© robertharding / James Hager / mauritius images
In Schweden werden sie auch "Könige des Waldes" genannt und haben eine riesige Fangemeinde: Elche begeistern durch ihre Kraft, ihre Kälteresistenz, Supersinne und Individualimus. Die Wildtierbiologin Dr. Wiebke Neumann beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit den Hirschen und erzählt, was sie so besonders macht

GEOplus: Frau Dr. Neumann, was fasziniert Sie besonders an Elchen?

Wiebke Neumann: Elche sind große Individualisten. Das begeistert und überrascht mich immer wieder von Neuem. Jedes Tier verhält sich anders. Der eine Elch ist zum Beispiel standorttreu, bleibt jahrelang in einem kleinen Terrain, ein anderer wandert weite Strecken. Das ist anders als etwa bei Herdentieren wie Gnus oder Karibus, die allesamt ihre Migrationsrouten haben und ihnen folgen. 

Warum treibt es manche Elche auf Wanderschaft?

Sie haben unterschiedliche Präferenzen, was ihre Sommer- und Wintergebiete angeht. Im April fangen sie an, die Winterquartiere, in denen es milder ist, zu verlassen. Der Grund: In den Sommergebieten finden sie mehr Nahrung.

Weshalb wandern dann nicht alle Elche?

Wiebke Neumann
Die Wildtierbiologin Dr. Wiebke Neumann arbeitet an der Swedish University of Agricultural Sciences in Umeå und erforscht seit Jahrzehnten unter anderem das vielschichtige Verhalten von Elchen
© Jörgen Wiklund SLU

Jede Wanderung kostet Energie – und sie ist auch nicht ungefährlich. Die Elchkühe tragen zur Zeit der Migration Junge im Bauch. Die Geburt der Kälber findet Ende Mai, Anfang Juni statt. Daher wollen die Kühe möglichst gerne vorher am anvisierten Ort ankommen. Eine Taxigeburt, also eine Niederkunft auf halber Strecke, ist nicht gerade erfreulich. Weder für die Mutter noch für das frisch Geborene. Sowas kommt aber ab und an vor. Normalerweise lohnt sich die Mühe des Wanderns allerdings.

Worin zeigt sich das?

Trotz der Energie, die die Tiere beim Wandern einbüßen, profitieren sie in der Regel von der besseren Versorgung mit Futter in den Sommergebieten. Das äußert sich, wie Studien zeigen, in einer höheren Reproduktion. Doch nicht in jedem Jahr profitieren die Wanderlustigen. Je nachdem, wie rau das Wetter ist und wie kräftezehrend und gefährlich die Wegstrecke, können auch die standorttreuen Tiere im Vorteil sein. Daher bleiben beide "Strategien" evolutionär bestehen.

Nehmen die Elche altbekannte Routen, laufen sie also auf Pfaden, die sozusagen bereits über Generationen hinweg ausgetreten sind? 

Um das zu erfahren, statten wir seit Jahren einige Elche mit GPS-Sendern aus. Und es zeigt sich: Die Tiere wandern auf Strecken, auf denen vor Jahrtausenden unsere Vorfahren Fanggruben aufgestellt haben. Es sind also uralte Routen, möglicherweise nutzen die Elche sie bereits seit der Steinzeit. 

Elch-Streaming: Das Live-Event von RTL+ und GEO

In Schweden ist es schon längst Kult, jetzt kommt das Naturspektakel der besonderen Art auch nach Deutschland: Ab dem 22. April zeigt RTL+ zwei Wochen lang im 24-Stunden-Livestream, wie Schwedens Elche nach kargen Wintermonaten an der Küste wieder zurück ins Landesinnere auf ihre Weiden ziehen. Hier geht's zum Slow-TV-Highlight.

Warum steht halb Schweden Kopf, wenn die alljährliche Elchwanderung – wie dieses Jahr erstmals auch in Deutschland – im TV übertragen wird?

Das hat uns auch überrascht. In Schweden wird der Elch auch "König des Waldes" genannt, die Schweden und Schwedinnen fühlen sich dem Tier sehr verbunden. Es gibt unglaublich viele Elchfans. Und hinzukommt: Dieser ruhige Blick in den Wald, über Flüsse und Wiesen bildet einen wunderbaren Gegenpol zum stressig-urbanen Leben. Mit dem Slow-TV kann man sich quasi die überwältigend schöne Natur ins Wohnzimmer holen.

Kann man sich einem Elch in der freien Wildbahn leicht nähern?

Das dürfte eher schwerfallen, denn Elche haben extrem gute Ohren und eine Supernase. Die hören und riechen von Weitem, wenn etwas im Busch ist. Und nehmen dann in der Regel reißaus. 

Ich erinnere mich noch gut an eine meiner ersten Elchbegegnungen. Als Studentin habe ich damals eine Kommilitonin begleitet, die ihre Masterarbeit über Elche schrieb. Wir haben uns – ganz vorsichtig – an eine Kuh angeschlichen, um zu sehen, ob ihr Kalb noch am Leben war. Die Elchkuh lag auf einer kleinen Anhöhe. Und das erste, was ich von ihr sah, waren diese riesigen, löffelförmigen Ohren, die aus dem Dickicht ragten und unentwegt in Bewegung waren. Und die Umgebung scannten. 

Und die Elchkuh hat sie nicht bemerkt?

Wir waren wirklich extrem leise – und der Wind stand gut. Weht auch nur ein verdächtiges Lüftchen in die Elchnase, ist es mit dem Anschleichen vorbei. 

Können Elche gefährlich werden?

Man muss schon Respekt haben und zeigen, wie bei allen wilden Tieren. Elche sind groß, haben viel Kraft und können recht schnell sein. Wenn es sein muss, können sie auf jeden Fall wehrhaft werden. Um sich oder ihren Nachwuchs zu verteidigen, treten sie mit den Vorderhufen. Oder auch mit den Hinterläufen. Aber man muss sagen: Elche sind in der Regel nicht aggressiv. Und in Skandinavien laufen Elche am ehesten einfach weg, wenn sie einen Menschen wittern. In Nordamerika zeigen die Tiere dagegen häufiger ein defensives Verhalten.

Elchkalb folgt der Mutter
Kälber bleiben rund ein Jahr lang mit der Elchkuh zusammen und lernen alles Mögliche von ihrer Mutter – zum Beispiel, auf welchen Wegen man vom Sommer- zum Wintergebiet kommt
© Tetra Images / Steve Smith / mauritius images

Woran liegt das unterschiedliche Verhalten? Hat die Menschenscheu damit zu tun, dass in Schweden Elche recht stark bejagt werden?

Möglich ist das auf jeden Fall. Vielleicht gibt es die, die nicht weggelaufen sind, schlicht nicht mehr. 

Pro Jahr werden in Schweden 80.000 Elche geschossen. Ist das notwendig?

Schweden blickt auf eine lange Tradition der Nutzung von Naturresourcen zurück. Hierzu gehört das "Allemansrätten" – zum Beispiel das Pfluecken von Beeren und Pilzen im Wald – wie auch die Jagd. In Schweden gibt es etwa genauso viele Jäger wie in Deutschland, aber bei einer Bevölkerung von rund zehn Millionen Menschen. Der relative Anteil an Jägern in der Bevölkerung ist also deutlich höher. Die Nutzung von Wildfleisch gehört für viele Schweden als natürlicher Teil zur Nahrungsversorgung.

Hinzu kommen hohe Populationsdichten von Elchen, aber auch von anderen Hirscharten – und mithin Fraßschäden an ökonomisch wertvollen Bäumen, etwa der Kiefer. Die Forstwirtschaft ist wichtig in Schweden und das Land hat einer höchsten Elchdichten in der Welt. Hier gibt es einen Konflikt zwischen Naturschutz und Forstwirtschaft. Es gilt daher, gewissermaßen einen Interessenausgleich, eine Balance zu finden. 

Wie findet man diese Balance?

Im Gegensatz zu Deutschland gibt es in Schweden keine ökonomische Entschädigung für Fraßschäden: Stattdessen regeln das entsprechend Jagdquoten. Die Population muss natürlich stabil bleiben, doch die Tiere sollen nicht überhandnehmen. Deswegen wird jährlich die Populationszusammensetzung  – unter anderem Kühe, Bullen und Kälber in den jeweiligen Verwaltungseinheiten – in Form der Anzahl geschossener Tiere registriert. So lassen sich Populationsveränderungen über den Lauf der Zeit verfolgen. 

Auch wenn viele Elche erlegt werden, muss man betonen: Schweden hat eine der höchsten Populationen weltweit. Bei uns ist der Elch also keineswegs gefährdet. Das war schon mal anders. In den 1940er Jahren gab es viel weniger Tiere. Ab den 1960er ging es dann kontinuierlich bergauf.

Was ist passiert?

Einerseits hatte das Wachstum der Population mit Veränderungen in der Forstwirtschaft zu tun, die in den1960er-Jahren automatisiert wurde. Die Folge: Es entstanden viele große Kahlschlagsflächen in den Wäldern. Und auf denen wuchs massenhaft Jungwald nach. Elche sind gut an junge sukzessive Waldstadien angepasst. Kleine zarte Bäume: bestes Elchfutter!

Außerdem hat man zu der Zeit das Prozedere bei der Jagd verändert. Seither müssen Kälber vor den Kühen geschossen werden. Erwachsene Kühe sind für eine stabile Population und den Populationszuwachs ausschlaggebend: Nur wenn es genug fortpflanzungsfähige Weibchen gibt, kann Jahr für Jahr ausreichend Nachwuchs zur Welt kommen. Und durch die Veränderung der Jagdordnung hat zum Beispiel eine Kuh mit Zwillingskälbern gleichsam eine zweifache Lebensversicherung. Der Effekt der Umstellung war frappierend: Die Elchpopulation in Schweden wuchs in den Jahrzehnten danach rasch an und erreichte in den 1980er Jahren ihr Maximum. Seitdem hat man die Population national gesenkt.

Macht der Klimawandel den Tieren zu schaffen?

Elche mögen es nicht besonders warm. Sie sind an raues Klima angepasst und wahre Kältekünstler. Elche sind groß und wie andere massige Tiere, haben sie ein guenstiges Verhältnis zwischen Oberfläche und Volumen. Darüberhinaus sind Ihre Körper fantastisch isoliert. Im Winter legen wir Elchen für unsere Studien Halsbänder mit GPS-Sendern um. Wenn man ihr Fell anfasst, fühlt es sich eiskalt kann. Doch sobald man die Finger ein wenig hineingleiten lässt, ist es kuschelig warm. Minusgrade machen den Tieren also wenig aus. 

Doch ab 14 Grad wird es vielen Elchen schon ein wenig warm. Und durch den Klimawandel haben wir auch in Schweden, gerade im Süden, immer mildere Temperaturen. Es zeigt sich, dass es den dortigen Populationen in den letzten Jahrzehnten nicht mehr so gut geht. Wärme ist ein Stressfaktor – und das können wir inzwischen unter anderem an einer verminderten Reproduktion ablesen.

Die Vitalität der Tiere hängt allerdings immer auch stark vom Lebensumfeld ab. Wieviel kühlenden Schatten durch Altbäume gibt es? Und wieviel Futter durch junges, frisches Grün? Auch in Polen leben ja Elche und dort ist es bekanntermaßen wärmer als in Norwegen oder Schweden.

Welche offene Frage mit Blick auf Elche würden sie gern beantwortet wissen?

Im Winter halten sich viele Elche in ein und demselben Gebiet auf. Doch ich würde gern mehr darüber herausfinden, was genau den einen Elch dazu veranlasst, im Sommer einfach dort zu bleiben, einen andern wiederum 20 Kilometer zu wandern und warum es den nächsten 40 oder gar mehr als 100 Kilometer in die Ferne treibt. Die Kühe lehren ihre "Strategie" den Kälbern, da diese ein Jahr mit der Mutter zusammen bleiben. Aber wir wissen immer noch nicht, inwieweit die Kälber, wenn sie erwachsen sind, die Strategie ihrer Mutter weiterleben oder verändern. Und welche Faktoren bestimmen, weshalb ein Elch sich für eine gewisse Strategie entscheidet. Letztendlich also würde ich gern eine Antwort auf die Frage finden: Worin genau fußt der Individualismus dieser faszinierenden Hirsche.

 

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