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Stille Vogelfelsen Vorher-Nachher-Bilder zeigen dramatischen Vogelschwund in Norwegen

Die Basstölpel in den Felswänden des Syltefjords (Aufnahme von 2023) täuschen darüber hinweg, dass sich an derselben Stelle vor einem halben Jahrhundert noch zahllose Trottellummen und Dreizehenmöwen drängten
Die Basstölpel in den Felswänden des Syltefjords (Aufnahme von 2023) täuschen darüber hinweg, dass sich an derselben Stelle vor einem halben Jahrhundert noch zahllose Trottellummen und Dreizehenmöwen drängten
© Signe Christensen-Dalsgaard/Rob Barrett
Während heute einige Tausend Seevögel den berühmtesten Vogelfelsen Norwegens bevölkern, waren es noch vor wenigen Jahrzehnten Millionen. Den dramatischen Verlust macht erst die Gegenüberstellung von historischen Fotos mit Aufnahmen von heute sichtbar

Der Syltefjord in Nordnorwegen gilt als Eldorado für Birdwatcher. Ausflugsfahrten zu den 100 Meter hohen und vier Kilometer langen Klippen bringen Vogelfreunde ganz nah ran an brütende Basstölpel, Dreizehenmöwen und andere Meeresvögel. Doch was die Bootsausflügler mit ihren Spektiven, Teleobjektiven und Ferngläsern begeistert, treibt Forschenden die Tränen in die Augen. Denn was sie hier sehen, ist nur der klägliche Rest der einst größten Vogelkolonie Norwegens.

Ein Wissenschaftsteam des norwegischen Instituts für Naturforschung (NINA) berichtet in einem aktuellen Fotoessay, dass noch um 1975 die Felsen auf der gesamten Höhe und Breite von Vögeln bedeckt waren. Auswertungen von historischen Fotos und Zählungen ergaben, dass in den 1970er- und 1980er-Jahren im Syltefjord noch mehr als eine Viertelmillion Dreizehenmöwen nisteten. Heute sind es nur noch einige Tausend Paare – ein dramatischer Rückgang, nicht nur hier im Syltefjord.

In den frühen 1970er-Jahren war die Spitze der Syltefjordstauran dicht von Trottellummen besiedelt, und Dreizehenmöwen nisteten auf den schmalen Felsvorsprüngen rund um die Klippen. Heute sind beide Arten verschwunden, während die Basstölpel sich hier anscheinend immer noch wohlfühlen.

Bevölkerten gegen Ende der 1970er-Jahre noch über eine Million Dreizehenmöwen die Felsenküsten Norwegens, sind es heute weniger als 50.000 Paare. Und auch andere Seevögel, darunter Trottellummen und Papageientaucher, verzeichnen dramatische Rückgänge. Mittlerweile stehen zwei von drei Seevogelarten in Norwegen auf der Roten Liste der bedrohten Arten. "Die meisten unserer Vogelfelsen sind verstummt", schreiben die Forschenden.

Auch weltweit immer weniger Seevögel

Offenbar handelt es sich beim Verstummen der Küsten um ein weltweites Phänomen. Nach Angaben der Forschenden sind in den vergangenen 50 Jahren etwa 70 Prozent aller Seevögel verschwunden. Der Grund liegt den Forschenden zufolge in Veränderungen im Meer.

In weniger als zwei Jahrzehnten sind große Teile der Dreizehenmöwen-Kolonie auf Hornøya verschwunden. Diese Fotos wurden in einem Nistgebiet in den Jahren 2006 (links) und 2023 (rechts) aufgenommen. Seevögel bringen Nährstoffe aus dem Meer und düngen die Flächen unter den Kolonien. Wenn die Seevögel verschwinden, wirkt sich das auf das gesamte Gebiet um die Kolonie aus.

"Es ist eine Kombination aus mehreren Faktoren", sagt NINA-Mitarbeiterin Signe Christensen-Dalsgaard gegenüber GEO. Doch der Klimawandel sei darunter wahrscheinlich der wichtigste, denn ein wärmeres und saureres Meer biete den Vögeln weniger Nahrung für sich selbst und für die Aufzucht der Küken. "Aber auch die kommerzielle Fischerei, Schwankungen der Fischbestände, die Erschließung der Küstengebiete und Störungen durch den Menschen wirken sich auf die Seevögel aus", sagt Christensen-Dalsgaard. Darüber hinaus verstärke der Nahrungsmangel häufig die negativen Auswirkungen anderer Stressfaktoren wie Verschmutzung, Fressfeinde und Störungen durch Menschen.

In eindrucksvollen Vorher-nachher-Bildern dokumentieren die Forschenden den dramatischen Rückgang der Populationen an den Küsten Norwegens: Einst von Vögeln und Kot weiße Felsen zeigen sich heute saubergewaschen und leer. Der "stille Frühling", vor dem die Biologin und Umweltaktivistin Rachel Carson einst warnte – hier wird er erlebbar. Allerdings nur dann, wenn man Fotos und Augenzeugenberichte aus früheren Jahrzehnten mit der Situation heute vergleicht.

Auch ein Problem der Wahrnehmung

Die Forschenden wollen mit ihrer Zeitreise die Augen öffnen für ein Problem unserer Wahrnehmung. Der Meeresbiologe Daniel Pauly hatte schon 1995 darauf hingewiesen, dass schleichende Veränderungen in der Umwelt kaum als solche erkannt werden: Jede Generation – auch von Forschenden – vergleicht den aktuellen Zustand allenfalls mit Erinnerungen aus der eigenen Kindheit oder Jugend. Und lässt damit außer Acht, dass die frühere Situation ebenfalls das Ergebnis einer langen Verschlechterung sein kann. Pauly nannte das Phänomen "shifting baselines" (zu Deutsch etwa: "sich verschiebende Grundlinien") und illustrierte es an mehreren Generationen von Fischern auf Kuba, die das Vorkommen und die Häufigkeit bestimmter Fischarten in ihrer Jugend als "normal" betrachteten – obwohl es über die Generationen hinweg immer weniger Fischarten und Fische gab.

"Wir verlieren den Überblick darüber, wie tiefgreifend sich die Welt um uns herum verändert hat, und nehmen mit jeder Generation mehr Zerstörung der Natur in Kauf", schreiben die Forschenden. Diese Blindheit gegenüber potenziell bedrohlichen Veränderungen der Umwelt könne allerdings zu einer Lähmung der Handlungsfähigkeit führen. "Um zu bewahren, was noch da ist, müssen wir unsere Augen öffnen und erkennen, war wir verloren haben", sagt Signe Christensen-Dalsgaard.

NINA und weitere Naturschutzorganisationen wollen nun gemeinsam mit dem norwegischen Umweltministerium ein "Rettungspaket" für Seevögel schnüren. "Ein Punkt ist eine nachhaltige Bewirtschaftung der Fischbestände, um sicherzustellen, dass genügend Fisch für Seevögel und Meeressäuger übrig bleibt", sagt Christensen-Dalsgaard. Vor allem aber müsse es um eine Ausweitung der Schutzgebiete gehen. "Die heutigen Schutzgebiete für Seevögel in Norwegen beschränken sich derzeit auf die Brutkolonien. Sie könnten auf die wichtigen Futtergebiete ausgeweitet werden." Wichtig sei auch, künftige Entwicklungen, etwa der Offshore-Windenergie, so zu planen, dass sie keine nachteilige Wirkung auf die Seevögel haben.

Auf den bedeutendsten Faktor aber hat das skandinavische Land, das mit Öl und Erdgas reich wurde, kaum noch Einfluss: den Klimawandel.

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