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Umwelt: Risiken und Nebenwirkungen aus der Leitung

Schmerzmittel, Lipidsenker, Antibiotika - eine deutschlandweite Studie hat sie jetzt in Süßgewässern und im Grundwasser nachgewiesen. Trinken wir Tag für Tag einen Medikamentencocktail?

Bereits frühere Proben brachten ans Tageslicht, was jetzt auch die Ergebnisse der ersten bundesweiten Untersuchung bestätigen: In Flüssen, Bächen und im Grundwasser findet sich ein ganzes Arsenal von Medikamenten-Spuren, die den Arzneikonsum deutlich widerspiegeln. So lasse sich anhand der Messwerte genau ablesen, wann welche Arzneimittel besonders häufig eingenommen würden, sagt Ralf Schmidt, Fachgebietsleiter der Abteilung Ökologie im Umweltbundesamt. "Im Winter haben wir beispielsweise deutlich mehr Überreste von Hustenmitteln nachgewiesen."

Insgesamt wurden rund 60 der meistverschriebenen Arzneimittelwirkstoffe im Rahmen des von der Umweltministerkonferenz in Auftrag gegebenen einjährigen Messprogramms "Pharmaka in der Umwelt" in Flüssen und Bächen entdeckt. "Angeführt wird die Hitliste vom Antiepileptikum Karbamazepin. Es folgen das Schmerzmittel Diclofenac, die Betablocker Metoprolol und Sotalol, der Lipidsenker Bezafibrat, die Antibiotika Sulfamethoxazol und Trimethoprim sowie zwei Röntgenkontrastmittel", fasst Hans-Dieter Stock vom Landesumweltamt Nordrhein-Westfalen und Koordinator des Messprogramms erste Ergebnisse zusammen.

Einige der Substanzen sind bereits ins Grundwasser vorgedrungen - beispielsweise Karbamazepin, Diclofenac und das Röntgenkontrastmittel Amidotrizoesäure. Allerdings, so Thomas Ternes vom Institut für Wasserforschung und Wassertechnologie ESWE in Wiesbaden, liegt die Dosis weit unterhalb der pharmazeutischen Wirkschwelle beim Menschen. Auch Jörg Metzger, Inhaber des Lehrstuhls für Hydrochemie und Hydrobiologie in der Siedlungswasserwirtschaft an der Universität Stuttgart, meint: "Ein Trinkwasser-Problem haben wir nicht."

Noch nicht. Denn Trinkwasserproben wurden im Rahmen der Untersuchung nicht entnommen. Und wie jener Medikamenten-Cocktail langfristig auf Mensch und Tier wirkt, ist weitgehend unerforscht. Bekannt ist lediglich, dass schon geringste Mengen hormonell wirksamer Substanzen, wie etwa das in Anti-Baby-Pillen verarbeitete Östrogen Ethinylestradiol, zu Störungen des Hormonhaushalts und zur Verweiblichung männlicher Fische führen. "Lebewesen im Wasser werden beeinträchtigt, wir wissen noch nicht, wie sich das auf die Nahrungskette auswirkt", sagt Jörg Metzger. Und ständig kämen neue Substanzen hinzu, so zur Zeit einige ebenfalls hormonell wirksame Flammschutzmittel in Kunststoffen, Bettmatratzen und Textilien.

Diese Stoffe wirken wie Schilddrüsenhormone und haben bei Versuchen mit Ratten Störungen des Nervensystems hervorgerufen. Die gemessenen Konzentrationen in Klärschlämmen seien "beeindruckend", sagt Bertram Kuch, Chemiker und Mitarbeiter in Metzgers Forschungsteam - und da Klärschlämme vielfach auf landwirtschaftlichen Flächen verteilt würden, könnten die Stoffe auf diesem Weg auch in die Fließgewässer gelangen. Kuch: "Sogar in Recycling-Toilettenpapier sind wir auf Flammschutzmittelspuren gestoßen." Nicht zuletzt könnten auch Antibiotika, von denen noch immer vier als Wachstumsförderer in der Tiermast eingesetzt werden, über die Gülle ins Oberflächenwasser geschwemmt werden oder langsam ins Grundwasser hinab sickern. Diese Rückstände stehen im Verdacht, Bakterienstämme gegen Antibiotika immun zu machen.

Doch so vielfältig der Mix, eins haben alle Arzneimittelwirkstoffe und hormonell wirksamen Verbindungen gemein: Sie sind äußerst stabil. "Die übliche Abwassertechnik reicht nicht aus, um die Stoffe vollständig aus dem Abwasser zu entfernen", sagt Thomas Ternes. Zwar könnten sie mit neueren Verfahren wie der Membrantechnik oder der Aktivkohlefiltration wesentlich besser eliminiert werden. Doch die Nachrüstung damit ist teuer. Und so versuche man zur Zeit, die gängigen Verfahren zu optimieren oder einfachere zu entwickeln. Zum Beispiel werden im Rahmen des EU-Forschungsprojekts Poseidon nicht nur solche untersucht, die am Ende des Prozesses - also bei der Abwasserreinigung - ansetzen, sondern auch welche, die bereits an der Quelle greifen.

Zum Beispiel die Urinseparierung. Das Prinzip des Projekts Novaquatis - eines Interdisziplinären Forschungsvorhabens der eidgenössischen Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz im schweizerischen Dübendorf: Der Urin soll in einem speziellen WC abgetrennt, in einem Tank gesammelt und von dort aus, zum Beispiel nachts, wenn wenig Wasser in der Kanalisation fließt, in die Kläranlage geleitet werden - wo die Problemstoffe dann aufgrund der höheren Urinkonzentration leichter eliminiert werden könnten. In ersten Pilotversuchen werden zurzeit die Akzeptanz in der Bevölkerung und die technische Machbarkeit überprüft.

Allerdings scheiden Menschen Medikamenten-Reste nicht nur mit ihren Exkrementen aus, sie werfen sie auch einfach in den Abfall. Deshalb sinken auch aus Mülldeponien viele Substanzen geradewegs ins Grundwasser, ebenso aus defekten Abwasserkanälen. "Um das Problem bei der Wurzel zu packen, müsste auch bei der Zulassung von Humanarzneimitteln endlich untersucht werden, wie sich die einzelnen Substanzen auf die Umwelt auswirken", fordert Ralf Schmidt. Allerdings werde es, meint Jörg Metzger, organische Spurenstoffe trotz aller Vor- und Nachsorge immer wieder und überall geben. Das sei eben eine der Kehrseiten unserer hoch technisierten Gesellschaft.

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