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Interview Der lange Weg ins All: Wie Alexander Gerst zum Astronauten wurde

Alexander Gerst
© Valery Kloubert/laif
Wer zu den Sternen fliegen will, muss hunderte Aufgaben lösen können: wissenschaftliche Experimente durchführen, Wunden nähen, eine Zahnfüllung setzen und im Falle einer Notlandung bei 20 Grad unter Null in der Wildnis überleben. Alexander Gerst kann es. Im Interview mit GEOextra erzählt er, wie er Astronaut wurde

GEO: Ihr Weg ins Weltall hat vor rund zehn Jahren begonnen: Sie waren damals Vulkanforscher – haben sich dann aber gemeinsam mit mehr als 8400 Konkurrenten für das Astronautenprogramm der ESA beworben. Wurde Ihnen die Erde zu langweilig?

Alexander Gerst: Nein! Aber seit meiner Kindheit hatte ich diesen Traum, in den Weltraum zu fliegen. Und ich finde, wenn man so einen Traum hat, dann sollte man einmal im Leben auch ernsthaft versuchen, ihn zu verwirklichen. Das ist man sich schuldig – selbst wenn die Wahrscheinlichkeit, dass es klappt, extrem gering ist.

Woher kam dieser Traum?

Ich wurde 1976 geboren, das heißt, als das Spaceshuttle zu fliegen begann, war ich etwa vier Jahre alt. Daran kann ich mich gut erinnern, ich war begeistert davon. Ich kannte genau die Namen der Orbiter, ich hatte Modelle zu Hause und von meinem Großvater ein Buch über die Mondlandung mit vielen Bildern und den Namen aller Landemodule. Da ging es los.

Frühe Prägung also...

Ein Stück weit schon. Aber ich habe mich natürlich als Kind auch für vieles andere interessiert: für Dinosaurier, Stürme, Vulkane. Mich hat alles fasziniert, was mit Entdeckung zu hat. Und deswegen bin ich auch erst einmal Wissenschaftler geworden. Als Geophysiker konnte ich viel auf der Erde entdecken. Und gleichzeitig habe ich mir gedacht, Naturwissenschaftler zu sein, wäre vielleicht auch ein guter Ausgangspunkt, um einmal Astronaut zu werden, da verbaue ich mir zumindest nichts. Und nun schaue ich mir die Erde eben von außen an. Ich finde, das ist eine logische Fortsetzung meines Berufs.

GEO-Reporter Lars Abromeit hat dieses Interview mit Alexander Gerst bereits nach der Rückkehr von seiner ersten Weltraum-Mission geführt. Es ist ein Auszug aus dem GEO-Sonderheft "Überirdisch: Die besten Fotos aus dem All".

Wie waren die Auswahltests für das Astronautenprogramm? Das Verfahren gilt ja als eines der härtesten Castings der Welt ...

Ich habe mir immer gesagt, dass ich eh nicht genommen werde. Schon aus Selbstschutz, um nicht enttäuscht zu sein, wenn ich ausscheide, aber auch weil ich ehrlich gedacht habe: Ich weiß nicht, ob ich das Zeug dazu hätte, so eine Weltraumrakete zu fliegen. Und dann war ich im Sommer 2008 in Vanuatu auf einer Expedition, mitten im Urwald auf einer Insel, um einen Vulkan zu erforschen. Da bekam ich eines Tages über das Satellitentelefon eine SMS, in der stand, dass ich zur nächsten Testrunde eingeladen bin. Das hat mich fast umgehauen. Zum Glück fanden die Testreihen erst nach meiner Rückkehr statt, in Runden mit immer weniger Teilnehmern. Die schwerste war die in Hamburg, eine Prüfung wie bei der Pilotenausbildung: Man wird gegrillt! Neun Stunden lang Merktests, Rechentests, Englischtests, Reaktionstests mit Joysticks, dann wieder Merktests. Da bin ich meinen Grenzen schon ziemlich nahe gekommen; aber das ist natürlich genau der Zweck dieser Übung. Irgendwann waren nur noch zehn Leute im Rennen. Dann kam ein Anruf der ESA, und ich wurde gefragt: „Möchten Sie denn ins ESA-Astronautenkorps kommen?“ Die wollten mich tatsächlich haben! Ich war platt und erleichtert nach all der Anspannung. Und dann bin ich erst einmal schwimmen gegangen.

Unter den sechs Kandidaten, die ausgewählt wurden, waren Sie der einzige Wissenschaftler. Die anderen hatten bis dahin Kampfjets und Passagiermaschinen gesteuert oder Raketentriebwerke entwickelt. Wer war da im Vorteil?

Am Ende muss man als Astronaut beides beherrschen – Experimente und Weltraumtechnik. Also habe ich eben fliegen gelernt, und die Piloten mussten sich in die wissenschaftlichen Abläufe einfinden. Wir sind alle recht ehrgeizig, das liegt, glaube ich, in unserer Natur. Und so kamen wir rasch auf dasselbe Niveau.

Bei der NASA haben Sie viel für den Außenbordeinsatz im Weltall geübt. In einem Tauchbecken mussten Sie dafür im Raumanzug unter Wasser am Nachbau der ISS operieren und Reparaturen proben. Hat Sie dieses Training gut auf die Schwerelosigkeit vorbereitet?

Sehr viel, die Astronautenausbildung ist vergleichbar mit einem kompletten Studium: Es gibt Dutzende von Kursen, viel Sport, zahlreiche Notfallübungen. Vor allem mussten wir lernen, die Technik der „Sojus“-Kapsel und der Systeme der ISS, der Internationalen Raumstation, zu beherrschen, den Roboterarm, die Andockmanöver der Raumtransporter, den Raumanzug für den Außenbordeinsatz. Hinzu kamen die wissenschaftlichen Experimente, davon hatten wir auf unserer Mission mehr als 100 dabei, die ich durchführen wollte. Und schließlich lernt man zum Beispiel auch, wie man Wunden näht, eine Zahnfüllung setzt, Spritzen verabreicht, auf der Raumstation Brände und giftige Gase bekämpft. Im russischen Winter haben wir geprobt, im Falle einer Notlandung bei 20 Grad unter null in der Wildnis zu überleben und aus dem Rettungsfallschirm einer „Sojus“-Kapsel ein Zelt zu bauen. Und in der weltgrößten Zentrifuge, im „Sternenstädtchen“ bei Moskau, wurde für den Wiedereintritt in die Erdatmosphäre trainiert, Fliehkräfte auszuhalten, die einen mit dem Neunfachen des eigenen Körpergewichts in den Sitz drücken.

Was waren die größten Herausforderungen für Sie in all diesen Tests?

Der härteste Teil der Ausbildung war für mich, innerhalb von drei Monaten Russisch zu lernen.

Wie bitte?

Ja, ehrlich! Die Kommunikation beim Flug mit der „Sojus“-Rakete, und zum Teil auch jene auf der ISS, läuft in Russisch ab. Es war extrem wichtig, die Sprache schnell zu lernen. Aber auch anspruchsvoll. Wenn ich mir eine Notfallprozedur einprägen muss oder zu lernen habe, wie eine Schaltung funktioniert, dann weiß ich zumindest, wann ich fertig bin. Bei einer Sprache dagegen ist man nie richtig fertig, da kann man immer noch besser werden. Da fehlt das Ende.

Bei der NASA haben Sie viel für den Außenbordeinsatz im Weltall geübt. In einem riesigen Tauchbecken mussten Sie dafür im Raumanzug unter Wasser am Nachbau der ISS operieren und Reparaturen proben. Hat Sie dieses Training gut auf die Schwerelosigkeit vorb

Nein, die Schwerelosigkeit lässt sich auf der Erde nicht wirklich trainieren. Sicher, wir machen Parabelflüge, bei denen wir eine halbe Minute lang in der Luft schweben, aber das ist zu kurz, um dieses Gefühl zu verinnerlichen. Und im Tauchbecken treiben wir zwar im Wasser, aber das fühlt sich ganz anders an als die Schwerelosigkeit. Wenn ich im Wasserbecken im Raumanzug kopfüber hänge, lastet mein volles Körpergewicht auf wenigen Quadratzentimetern meiner Schultern! Das hinterlässt blaue Flecken.

Diese „Weltraumspaziergänge“ unter Wasser dauern oftmals sechs oder sieben Stunden. Wie schafft man das?

Nur durch viel Training. Dieser Anzug ist echt ein Biest: störrisch, 160 Kilogramm schwer, man hat keinen Überblick über die Werkzeuge am Körper, man kann nicht gut greifen. Jedes Mal, wenn ich meine Hand bewegen will, fühlt sich das an, als ob ich auf einen Tennisball drücke. So ein Raumanzug ist keine angenehme Umgebung zum Arbeiten – aber eben die beste, die wir für Außeneinsätze im Weltall haben: ein eigenes kleines Raumschiff. Jeden Handgriff damit muss man häufig üben, was wahnsinnig anstrengend ist. Aber später bei meiner Mission im Weltraum habe ich auch gemerkt, dass mir jede Minute des Trainings genützt hat. Ich bin besser und besser geworden bei diesen Übungsläufen.

Kurzbiografie: Antrieb durch Neugier

Alexander Gerst wird 1976 in Künzelsau bei Heilbronn geboren. Schon vor seiner ersten Weltraummission lernt er, mit Gefahren und unvorhergesehenen Situationenzurechtzukommen: Als Schüler engagiert er sich bei der Feuerwehr; nach seinem Zivildienststudiert er Geophysik und erforscht Vulkane in der Antarktis, Äthiopien und Vanuatu.

Während seiner Promotion 2008 bewirbt er sich für das europäische Astronautenprogramm. Es gibt mehr als 8400 Konkurrenten, doch er schafft es. 2014 fliegt er zum ersten Mal ins All. Nun fliegt er zum zweiten Mal zur Internationalen Raumstation (ISS). Dieses Mal wird er einige Monate lang das Kommando übernehmen - als bislang erster Deutscher.

Was waren für Sie die Höhepunkte der Vorbereitung?

Zum einen der Anfang, als mir bewusst wurde, dass ich jetzt tatsächlich Astronaut werde und dass ich dieses Vertrauen bekomme, gemeinsam mit meiner Mannschaft eine Zeit lang für die ISS, die komplexeste Maschine der Menschheit, verantwortlich zu sein. Was für ein großartiges Kompliment! Und zum anderen später, als ich die ersten schwierigen Prüfungen bestanden habe, beispielsweise den Roboterarm der Weltraumstation zu steuern. Dazu muss man zwei unabhängige Joysticks handhaben und sich in sechs Rotationsachsen gleichzeitig hineindenken. Eine falsche Bewegung, und man schlägt ein Loch in die Außenwand der Raumstation. Als ich meine Tests dazu schließlich bestanden hatte, dachte ich: „Hoppla, du kannst das tatsächlich schaffen!“ Das war ein tolles Gefühl.

Haben Sie trotzdem manchmal gezweifelt, ob Sie das straffe Programm bewältigen?

Eigentlich ist das Training dafür viel zu gut strukturiert. Und es ging der ESA auch nicht mehr darum, auszusieben oder einen Konkurrenzkampf zwischen uns Astronauten zu schüren. Uns wurde von Anfang an klar gesagt: „Wir haben euch ausgewählt, weil ihr gut seid und wir an euch glauben; und jetzt zeigen wir euch, was ihr können müsst.“ Auf die Entscheidung, wer von uns dann für welche Missionen nominiert wird, hatten wir gar keinen Einfluss. Und wenn ich eine Prüfung beim ersten Mal nicht bestanden hätte, wäre das Training noch weitergegangen, und ich hätte die Prüfung halt wiederholt. Es sind einfach nur sehr viele Informationen.

Häufig mehr, als man aufnehmen kann?

Klar. Wir wollten immer noch mehr in den Kopf hinein pressen, aber wir mussten auch lernen, unsere Energien gut einzuteilen. Das Training ist wie ein Marathon: Nichts wäre schlimmer, als auf halber Strecke auszubrennen. Manchmal kam mir das vor, als wäre ich mit einer Krawatte im Fenster eines Autos eingeklemmt und müsste in dieser Lage nebenherlaufen. Wie im Film. Das Auto fährt gar nicht schnell, vielleicht Schrittgeschwindigkeit. Aber es fährt eben. Man kommt gut mit, doch man sollte nicht stolpern.

Wenn Sie zurückblicken: Was ist das Wichtigste, das man als Astronaut können muss?

Dass man Informationen effizient filtern kann – und dass man neugierig ist und nicht aufgibt, wenn es mal schwierig wird. Denn diese Phasen kommen natürlich, und es gab auch schon Astronauten, die nach der Grundausbildung noch einmal 14 Jahre auf ihre erste Mission warten mussten. Das erfordert Geduld. Die ESA hat nach genau solchen Leuten gesucht, die diese Hartnäckigkeit vorher bereits unter Beweis gestellt hatten. Das lässt sich ja auch schwer testen: wie man reagiert in Extremsituationen, wenn es gefährlich wird und einem vielleicht auch noch kalt ist. Bei mir zum Beispiel ist auf den Expeditionen zu den Vulkanen, in der Antarktis etwa, schon so manches anders gelaufen als geplant. Ich musste oft meine Strategie anpassen, um Risiken zu minimieren und gute Forschungsdaten nach Hause zu bringen. Ich hätte jederzeit aufgeben können, aber ich habe weitergemacht, solange ich eine Chance gesehen habe. Diese Einstellung braucht man als Astronaut.

GEO EXTRA Nr. 1 - Überirdisch: Die besten Fotos aus dem All

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