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Einsamkeit »Einsame Jugendliche lehnen demokratische Werte häufiger ab«

aus DER SPIEGEL 51/2023
Wilke

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Yvonne Wilke / KNA

SPIEGEL: Frau Wilke, was ist Einsamkeit?

Wilke: Wir definieren Einsamkeit als die Diskrepanz zwischen den tatsächlichen und den gewünschten sozialen Beziehungen eines Menschen. Einsam fühlt sich zum Beispiel, wer sich generell mehr Kontakte wünscht. Oder jemand, der zwar viele Kontakte hat, aber bedauert, dass diese Beziehungen nicht tiefer gehen.

Zur Person

Yvonne Wilke, 47, ist Leiterin des Projekts »Kompetenznetz Einsamkeit«, das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert wird und zu Einsamkeit forscht.

SPIEGEL: Wer ist besonders gefährdet?

Wilke: Menschen, die erwerbslos sind oder ein geringes Einkommen haben, die chronisch krank oder körperlich beeinträchtigt sind und Ältere. Außerdem Alleinerziehende und Familien mit jungen Kindern. Während der Coronapandemie haben wir registriert, dass vor allem die Zahl einsamer Kinder und Jugendlicher stark gestiegen ist.

SPIEGEL: Werden wir also immer einsamer?

Wilke: Nein, es gab zwar während der Pandemie einen starken Anstieg von 14,2 Prozent der befragten Menschen im Jahr 2017 auf 42,3 Prozent im Jahr 2021. Bei Kindern und Jugendlichen lag die Zahl mit 48 Prozent sogar noch höher, aber sie ist inzwischen tendenziell rückläufig.

SPIEGEL: Wann ist Einsamkeit gefährlich?

Wilke: Wenn sie über einen längeren Zeitraum, also etwa zwei Jahre anhält. Bei älteren Menschen wirken sich häufig schon kurze Phasen der Einsamkeit aus. Chronische Einsamkeit wirkt sich auf die Gesundheit aus. Wir beobachten mehr Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes, Demenzerkrankungen können sich verschlechtern, Depressionen stärker werden, Suizidgedanken auftauchen. Studien zeigen außerdem, dass einsame Jugendliche demokratische Werte und Normen häufiger ablehnen und eher Verschwörungstheorien anhängen.

DER SPIEGEL 51/2023

Strategen des Terrors

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SPIEGEL: Sie haben an der Bundesstrategie gegen Einsamkeit mitgearbeitet. Sind Sie zufrieden mit dem Ergebnis?

Wilke: Die neue Strategie ist eine gute Grundlage für die weitere Arbeit, weil sie zeigt, wo politisch gehandelt werden muss und in welche Maßnahmen und Projekte Geld fließen sollte, auch wenn dafür nun kein eigener Sondertopf eingerichtet wurde.

SPIEGEL: Es soll nun auch mehr geforscht werden. Welche Erkenntnisse fehlen denn noch?

Wilke: Wir brauchen ein langfristiges Monitoring, um zu wissen, was Einsamkeit verstärkt und was es verhindert. So wissen wir noch zu wenig über einzelne Bevölkerungsgruppen wie queere Menschen. Und wir brauchen mehr Daten zur Wirksamkeit einzelner Maßnahmen, um Sozialarbeiter und andere Fachkräfte bei ihrer Arbeit unterstützen zu können.

SPIEGEL: Welche Länder sind für Sie Vorbilder?

Wilke: Alle, die für die entsprechende Vernetzung und Infrastruktur sorgen. So haben die Niederlande eine gemeinsame Plattform für Akteurinnen und Akteure aus Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft geschaffen. Und Großbritannien hat eine eigene Einsamkeitsbeauftragte eingesetzt. Hier in Deutschland macht es Stuttgart mit der Initiative »Gemeinsam – ZusammenHalt finden« beispielsweise sehr gut.

SPIEGEL: Wo kann man sich Hilfe suchen, wenn man einsam ist?

Wilke: Zum Beispiel beim »Silbernetz« für ältere Menschen, die sich einsam fühlen. Und für Jugendliche beim Krisenchat oder bei der »Nummer-gegen-Kummer«. Gerade zur Weihnachtszeit gibt es auch noch spezielle Angebote, wie die Initiative »Keine(r)BleibtAllein«.

sv
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