Das Land der aufgehenden Sonne gibt sich zum Auftakt der Kreuzfahrt regnerisch. Stahlgrauer Himmel, stahlgraues Meer. Steuerbord liegt verwaschen im Nebel die Landmasse der Hauptinsel Honshu. „Bewölkt mit regnerischen Abschnitten“ hatte die Schiffspostille zutreffend angekündigt. Die vierseitige Broschüre mit den Landausflügen und Veranstaltungen an Bord der „Silver Whisper“ wird täglich vom indischen Butler Jairaj in die Kabine gelegt, auf das Fußende des Bettes. Mit zwei Schokoladentäfelchen wie zum Trost für das trübe Wetter.
Eine Erkundung des faszinierenden, rätselhaften Inselreichs Japan ist das Ziel der Fahrt. In zehn Tagen wird der weiße Dampfer sechs japanische Häfen anlaufen. Große wie Osaka, kleine wie Kanazawa und Akita. Er wird in drei verschiedenen Meeren kreuzen: im Pazifik, in der Seto-Inlandsee sowie im Japanischen Meer. Am Ende wird man viel gesehen und gelernt haben, die gesamte Reise besteht aus kleinen und großen Erkenntnissen, Widersprüchen und Überraschungen. Zehn beispielhafte Lektionen.
1. Sake ist gar kein Reiswein
Kaum etwas ist so wichtig auf einem Kreuzfahrtschiff wie Essen und Trinken. Das gilt auch für Silversea, die Reederei unseres Schiffs, heute Teil der US-amerikanischen Royal-Caribbean-Gruppe, gegründet von einer römischen Familie. Ein italienisches Bordrestaurant mit Pasta, Saltimbocca und Gelato gehört deshalb zum Selbstverständnis und verändert auch in Japan nicht die Speisekarte. Aber das Hauptrestaurant auf Deck vier serviert jetzt „Flavours of Japan“: Serviert werden Gurkensalat in Reisweinessig, Rindfleisch mit Klebreis, Pfannkuchen mit Rote-Bohnen-Paste. Mutig!
Die meisten der insgesamt 381 Gäste sind bei kulinarischen Experimenten zurückhaltend, halten sich lieber an Heilbutt und Hummer Thermidor. Neben Amerikanern, Australiern und Briten sind auch 15 Deutsche an Bord. Und Roy und Mizao, die sich als japanisch-stämmiges Ehepaar aus Kanada vorstellen. Aber wenigstens einheimisch trinken wollen die beiden. „Haben Sie Sake?“, fragt Mizao den Weinkellner. „Aber ja!“, antwortet dieser und tippt die Bestellung in seinen Tablet-Computer.
Nach fünf Minuten kommt der Drink. Kalt. Wie von Mizao bestellt. Dazu eine erste Lektion des Weinkellners: „Wussten Sie, dass Sake gar kein Wein ist?“ Er werde gebraut und nicht gekeltert. „So desu ne!“, ruft Mizao höflich. Ach, so ist das! Ein japanischer Ausdruck, der fast ein wenig Deutsch klingt. Man wird ihn noch öfter hören an Land und an Bord.
2. In Osaka kann der Flughafen schwimmen
Osaka ist der erste Halt nach dem Ablegen in Tokio. Mit 16 Knoten, rund 30 Stundenkilometern, schippert die „Silver Whisper“ in die Bucht vor der Millionenstadt. Hört sich langsam an, ist es aber nicht. Die Wogen klatschen gegen den Bug, das Schiff schaukelt wie ein gut gelaunter Hamburger Hafenschlepper. Erste Passagiere ereilt die Seekrankheit. Der Schiffsarzt reicht Tabletten. Sake, egal ob Wein oder nicht, hilft auch.
Dutzende Frachter ziehen vorbei, unterwegs nach Kobe, Okayama oder Takamatsu. Die 125 Millionen Japaner wollen versorgt werden. Auch am Himmel ist viel los. Sechs Flugzeuge reihen sich wie Zugvögel hintereinander im Landeanflug auf den Flughafen Kansai. Er liegt auf einer künstlichen Insel, wie man vom Schiff aus gut sehen kann, fünf Kilometer vor Osaka. Die Japaner haben von den Niederlanden gelernt: Geht ihnen der Platz aus, fügen sie ihren vielen Inseln einfach ein paar weitere hinzu.
3. Warum Fälschungen alltäglich sind
Osaka gilt als das Handels- und Vergnügungszentrum Japans. Gutes Essen und viele Bars prägen die Stadt. Sushi vom Fließband wurde hier erfunden. Und die Karaoke-Maschine. Gleich neben dem Anleger kreist ein hundert Meter hohes Riesenrad.
Man kann mit wenigen Schritten aus der Schiffskabine in die Kabine des Karussells wechseln. Oder auf einen Nachbau der „Santa KMaria“, mit der Kolumbus 1492 nach Amerika segelte. Den Dreimaster made in Japan treibt jedoch ein Motor an. Außerdem ist er doppelt so groß wie das Original, damit mehr Touristen hineinpassen.
Nicht weit entfernt grüßen die Türme eines schottischen Märchenschlosses. Es ist eine Hogwarts-Kopie aus „Harry Potter“. Traum und Wirklichkeit, Original und Fälschung, so lernt man, sind Kategorien, die in Japan fließend ineinander übergehen.
Am nächsten Morgen – das Schiff bleibt in Osaka über Nacht – führt ein Landausflug zu einer echten Burg, die achtstöckige Bastion des Feldherrn Toyotomi Hideyoshi aus dem 16. Jahrhundert mit vergoldeten Fischen an den Giebeln. Oder ist auch diese Burg, eine der berühmtesten Japans, nicht original?
Stadtführerin Etsuko klärt auf: Es ist ein Nachbau aus Beton mit Aufzug in der Mitte. So echt wie das Plastik-Sushi in den Schaufenstern der Restaurants. Nur einige Steine im Fundament und Teile der Burgmauern stammen noch aus der Gründerzeit. Etsuko versteht die verblüfften Gesichter nicht. „In Japan kommt es auf den Geist des Ortes an, nicht auf die Gebäude.“ Manche heiligen Schreine würden alle 20 Jahre abgerissen und wieder aufgebaut. So desu ne! Ach, so ist das!
4. Hello Kitty und Hiroshima
Der Amerikaner John Freedman ist ausgebildeter Arzt und weitgereist („nach 170 Ländern habe ich aufgehört zu zählen“). Sein Wissen teilt er als Dozent auf Kreuzfahrtschiffen. In acht Vorträgen überschüttet er auf dieser Reise die Gäste mit Informationen. Anschließend weiß man nicht, ob einem vom Seegang schwindelt oder von Doktor Freedmans landeskundlicher Druckbetankung.
Amaterasu, die Sonnengöttin, von der die Kaiser abstammen. Buddhisten, Shintoisten, Zen-Anhänger. Schreine, Tempel, Steinlaternen. Shogune, Samurais und Hello Kitty, die seit 1974 nicht nur Kinder, sondern erstaunlicherweise auch erwachsene Japaner begeistert.
Freedman scheut nicht vor ernsten Themen zurück. Japans Militarismus im 19. Jahrhundert, der Zweite Weltkrieg mit dem Angriff auf Pearl Harbor und den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Dann ist es immer still im Schiffsauditorium. Freedman hat recht mit der Feststellung, dass die japanischen Guides an Land solche heiklen Themen meist ausklammern.
Roy, der Emigrant aus Kanada, erzählt eine Anekdote, die er typisch findet für Japans selektiven Umgang mit Geschichte: „In einem Zug unterhalten sich zwei japanische Jugendliche. ‚Wusstest du‘, fragt der eine Junge, ‚dass wir mit Amerika im Krieg waren?‘ ‚Echt?‘, erwidert der andere, ‚wer hat gewonnen?‘“
5. Sprachbarrieren singt man weg
Elodie Grellier, eine reizende Französin aus der Nähe von Nantes, organisiert als Shore-Concierge-Managerin die Landausflüge. 86 Prozent der Passagiere haben mindestens eine Tour gebucht, der Rest ist auf eigene Faust unterwegs oder bleibt an Bord. Japan, sagt Grellier, sei für ihren Job eines der schwierigsten Länder. „Unsere einheimischen Partner wollen ein halbes Jahr im Voraus genau wissen, wie viele Passagiere auf den Ausflügen mitkommen, was sie essen wollen und was gezeigt werden soll.“
Raum für Änderungen, zum Beispiel, weil es regnet und ein Gartenbesuch dann nicht die beste Idee ist, bleibe kaum. Zum anderen sei es schwierig, genügend Guides zu finden, die gut Englisch sprechen. In Englischtests schneiden Japaner regelmäßig schlechter ab als Studenten aus Nordkorea, die nicht gerade für ihr fließendes Oxford-Englisch bekannt sind.
Sprachliche Lücken werden mit Charme wettgemacht. Führerin Etsuko singt auf der Rückfahrt im Bus mit Inbrunst ein melancholisches Lied über den Abschied von guten Freunden. Jedenfalls behauptet sie, dass es um den Abschied von guten Freunden geht. Man versteht ja kein Wort, sie singt auf Japanisch. Und so muss man demütig feststellen: Japaner sprechen zwar nicht allzu oft und allzu gut Englisch, doch das Japanisch der Besucher ist meist noch deutlich schlechter. So desu ne!
6. Wie kommt Busan in eine Japan-Kreuzfahrt?
Ein neuer Hafen, eine neue Führerin. „Good Morning!“, ruft Jeannie in den Bus. „Willkommen in …“, sagt sie und macht grinsend eine Kunstpause. „Wissen Sie überhaupt, wo Sie sind?“ Immerhin einer ruft: „Heute in Busan.“ Und das liegt nicht in Japan, sondern in Südkorea. Deshalb hat die koreanische Ortskraft Jeannie durchaus Grund, bei ihren Gästen mal nachzufragen.
Hat sich der polnische Kapitän Dariusz Grezlak auf der Japan-Umrundung verfahren? Natürlich nicht. Die Ursache für den Abstecher ist eine protektionistische Regelung, erklärt Cruise Director Moss Hills, Chef des Unterhaltungsprogramms und Sprachrohr des Kapitäns. Ausländische Schiffe dürfen ihre Fahrt nicht in Japan beginnen und beenden. Sie müssen dazwischen wenigstens einmal das Land verlassen. Deswegen der Umweg über Busan.
Der knapp achtstündige Ausflug ist allerdings ein aufwendiges Unternehmen. Alle Passagiere müssen aus Japan ausreisen, dafür kommen eigens Grenzbeamte an Bord, in Südkorea einreisen, dort am Abend wieder ausreisen und in Japan erneut einreisen. Der Pass füllt sich mit Aus- und Einreisestempeln, man hat eine Menge Uniformen gesehen.
Moss Hills zuckt mit den Schultern. Kann man nichts machen. Der Mann, gebürtig in Simbabwe und mit einem wunderbaren britischen Akzent gesegnet, ist ohnedies nicht zu erschüttern. Er ist ein Held der Kreuzfahrt, über den demnächst sogar ein Hollywood-Film gedreht werden soll. Davon erzählt er später mehr.
7. In Japan perfektioniert man Perfektion
Im südkoreanischen Reisebus hingen goldene Rüschenvorhänge und kleine Glitzerkugeln. Auf so etwas kämen die Japaner nie. Ihre Busse sind schlicht, einfarbig und perfekt in Schuss. Die japanische Perfektion scheint auf die Mannschaft abzufärben. Kaum liegt die „Silver Whisper“ im Hafen, holen Matrosen Farbeimer heraus und tilgen mit Rollen an langen Stilen dunkle Flecken am Rumpf.
Kapitän Grezlak legt das zehnstöckige Schiff jeden Tag aufs Neue so behutsam an, als könnte schon der kleinste Rumms die japanische Erdbebenwarte alarmieren. In Hakodate, dem letzten Hafen, wird im überdachten Gang zum Cruise Terminal alle drei Meter ein Hinweispfeil zum Ausgang aufgehängt, insgesamt bestimmt 50 Stück. Dabei ist Verirren in dem schmalen Gang so unmöglich wie in einem Geburtskanal.
Doch niemand ist so perfekt wie Butler Jairaj. Der 33-jährige aus Neu-Delhi trägt Frack und ist ein sehr formeller Bursche. Dreimal hintereinander sagt er „Good afternoon, Sir“, während er Dinge in die Kabine hinein- und hinausträgt. Die nächste Schiffspostille zum Beispiel. Neue Schokolade. „Good afternoon, Sir, wollen Sie vielleicht noch ein paar Weintrauben?“
8. Trommler als Zeichen der Gastfreundschaft
Fast ist man geneigt, so viel Perfektion vielleicht etwas erdrückend zu finden, da erlebt man jählings japanische Lebensfreude, dass das Herz ganz weit wird. Vier der sechs Häfen schicken zum Ablegen Musiker und traditionelle Taiko-Trommler. Einfach so, aus Gastfreundschaft.
Mit ihren Paukenschlägen wollen sie die Wettergötter gnädig stimmen und das Schiff mit guten Wünschen verabschieden. Vielleicht auch vertreiben, witzelt einer der Mitreisenden, so rasend und martialisch klingen sie. Sie trommeln und hüpfen, sie rufen und winken eine halbe, eine dreiviertel Stunde lang – und ernten donnernden Applaus von den gerührten Passagieren auf den Außendecks und Balkonen.
9. Ein Held aus früheren Tagen
„Ich will niemandem auf die Nerven fallen“, sagt Moss Hills. Deshalb beschränkt er seine Ansagen auf ein Minimum und macht keine Werbeveranstaltung fürs Schiffs-Spa oder den Duty-free-Verkauf. „Ding Dong, hier spricht Ihr Cruise Director – das will doch keiner dauernd hören“, findet Hills. Der schmale Mittsechziger ist Kreuzfahrt-Insidern bekannt für eine Heldentat aus den 1990er-Jahren.
Als damals die „Oceanos“ in einem Sturm vor Südafrika unterging, halfen er und seine Frau Tracy, alle 581 Passagiere zu retten. Eine Viertelstunde nachdem der letzte Mann mit einem Hubschrauber von Bord geholt wurde, sank das Kreuzfahrtschiff zehn Kilometer vor der Küste. Dort liegt das Wrack noch heute in 91 Meter Tiefe. Im Internet gibt es Videos von dem spektakulären Untergang. Hills und seine Frau waren als Musiker an Bord, also zivile Kräfte. Die eigentlich verantwortlichen Offiziere waren in Rettungsbooten verschwunden.
Ein Wunder, dass Hills auch drei Jahrzehnte später noch heiter und gelassen zur See fährt, inzwischen in weißer Uniform. Denn auch 1994, als die „Achille Lauro“ sank, war er dabei. „Ich habe keine Angst“, sagt er. „Kreuzfahrten sind eine der sichersten Reisearten, die es gibt.“ Die Sicherheitsübung für alle Passagiere zu Beginn jeder Reise nimmt er auf jeder Tour sehr ernst. 25 Fernseh-Dokumentationen sind über Hills und die „Oceanos“ gesendet worden, in Hollywood wird gerade am Drehbuch für einen Film geschrieben. Er sagt, die anhaltende Aufmerksamkeit sei ihm ein bisschen peinlich.
10. Ein Joker und eine Verbeugung
Hinter der Theke in der Schiffsbar auf Deck fünf steht ein Mann namens Joker. Er kommt aus Manila, sein Vater fand den Namen für den Sohn lustig. Man sollte sich gut mit Joker stellen. Denn er hat einen Geheimvorrat an japanischem Whisky. Nur ein paar Flaschen. Man muss danach fragen.
Margret und Peter aus Australien tun es, kurz vor dem Ablegen in Hakodate, dem letzten Hafen. Joker geht nach hinten und holt eine Flasche. „Wie war die Japan-Rundreise?“, fragt er, während er die Gläser füllt. „Großartig“, antworten die beiden, „was für ein exotisches Land!“ Wo geht es als Nächstes hin? „Nach Polynesien.“ So fröhlich, wie sie es betonen, klingt es, als sei Polynesien nach Japan ein Kinderspiel.
Pünktlich um 18 Uhr legt das Schiff ab. Der Himmel ist schon dunkel, ein prächtiger Vollmond geht auf. Auf dem Kai steht noch ein Hafenarbeiter, während die „Silver Whisper“ langsam hinweggleitet. Er verbeugt sich tief und tritt ab. So desu ne.
Weitere Informationen zu Kreuzfahrten in Japan:
Verschiedene Reedereien haben Kreuzfahrten mit Schwerpunkt Japan im Programm: Die „Aida Stella“ kreuzt zum Beispiel 2025 15 Tage rund um Japan, ab 2345 Euro pro Person (aida.de).
Hapag-Lloyd Cruises schickt die „Europa 2“ im Februar 2025 von Shanghai nach Tokio, 16 Tage ab 11.190 Euro (hl-cruises.de).
Die „MSC Bellissima“ steuert im November 2024 drei japanische Häfen und Taiwan an, sechs Tage ab 574 Euro (msccruises.de).
Silversea bietet 2024 und 2025 verschiedene Japan-Rundreisen zwischen 10 und 14 Tagen ab 7250 Euro an, die nächste Reise startet mit der „Silver Muse“ im September ab Tokio (silversea.com). Die Preisangaben enthalten jeweils das All-inclusive-Package an Bord, aber keine Flüge nach Japan.
Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von Silversea. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter go2.as/unabhaengigkeit.