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Geschichte Putschversuch 1923

Was wirklich hinter Hitlers „Zirkusszene“ steckte

Der Putsch der NSDAP am 8. und 9. November 1923 in München scheiterte auf fast lächerliche Weise. Doch in Wirklichkeit hatte der Plan ganz anders ausgesehen – und war viel gefährlicher. Das zeigen jetzt erstmals umfassend ausgewertete Archivquellen.
Leitender Redakteur Geschichte
Armed Nazis prepare to enter Munich following the Hitler Putsch or Beer-Hall Putsch. Date: 9 November 1923 (Mary Evans Picture Library) || Nur für redaktionelle Verwendung Armed Nazis prepare to enter Munich following the Hitler Putsch or Beer-Hall Putsch. Date: 9 November 1923 (Mary Evans Picture Library) || Nur für redaktionelle Verwendung
Der "Stoßtrupp Adolf Hitler" stellte 1923 die Leibwache des NSDAP-Chefs
Quelle: picture-alliance / Mary Evans Picture Library

Eine Posse – was denn sonst? Auf den ersten Blick erweckten die Vorgänge in München am 8. und 9. November 1923 den Eindruck eines „Operettenputsches“: Da war bald nach 20.30 Uhr ein nicht mehr ganz junger, etwas linkischer Mann in Regenmantel und abgetragenem Anzug mitten in eine laufende Versammlung im Bürgerbräukeller am Rande der Münchner Innenstadt geplatzt und zum Podium gestürmt. Dort hatte er sich auf einen Stuhl gestellt, eine Pistole gezogen und in die Decke geschossen. Anschließend hatte er die Regierung in Berlin für abgesetzt erklärt.

Weniger als 16 Stunden später war derselbe nicht mehr ganz junge Mann an der Spitze eines Zuges von zwei- bis dreitausend Anhängern kaum zwei Kilometer entfernt an der Feldherrnhalle ins Gewehrfeuer von Polizisten geraten, zu Boden gestürzt und geflüchtet, während anderthalb Dutzend Tote und tödlich Verletzte auf dem Pflaster liegen blieben. Nicht einmal die Straßenbahnen hatten wegen der Ereignisse ihren Betrieb stark einschränken müssen, und die meisten Deutschen bekamen erst aus den Zeitungen davon überhaupt etwas mit.

9-1923-11-8-E4 (1964526) Hitler-Putsch 1923 / Titelseite des 'Vorwärts' Deutschland / Weimarer Republik / Hitler-Putsch in München, 8./9.Nov.1923. - 'Der Ludendorff-Putsch erledigt (...)'. - Titelseite der Zeitung 'Vorwärt', Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Morgenausgabe, Nr. 527, 40. Jahrgang, Sonnabend, 10. November 1923. Berlin, Slg.Archiv f.Kunst & Geschichte.
Titelseite des „Vorwärts" vom 10. November 1923
Quelle: picture alliance / akg-images

An eine „Zirkusszene“ fühlte sich die bürgerlich-liberale „Vossische Zeitung“ in ihrer nächsten Ausgabe erinnert; im linksliberalen „Berliner Tageblatt“ trug der Leitartikel am selben 10. November die Überschrift „Das Ende der Hanswurstiade“. Dem SPD-Blatt „Vorwärts“ erschien der ganze Vorgang „jämmerlich“, während die kleinbürgerliche „Berliner Morgenpost“ über den „Spuk“ spottete. Das demokratische „Neue Tagblatt“ aus Stuttgart nannte die Akteure „Dilettanten der schlimmsten Sorte“.

Aber trafen diese Urteile zu? Handelte es sich um ein von vorneherein zum Scheitern verurteiltes Unternehmen? Oder waren die Ereignisse jener rund 16 Stunden vielleicht das so natürlich nicht vorgesehene Ende eines ganz anderen Plans? Eines Vorhabens, das größer angelegt war, als nur auf die wenigen Quadratkilometer der Münchner Innenstadt vom Bürgerbräukeller rechts der Isar bis zum Odeonsplatz zu zielen?

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Es war mehr als eine Phrase, wenn Adolf Hitler 1922/23 so oft von einem „Marsch auf Berlin“ sprach. Auch war es kein Zufall, dass sich gerade zwischen dem 3. und dem 6. November 1923 die Lage so sehr zuspitzte. Und es handelte sich um mehr als die Launen lokaler Anführer, dass in vielen Städten des Reiches am 8. und 9. November bewaffnete Trupps von SA und NSDAP bereitstanden, um auf Befehl aus München loszuschlagen. In Wirklichkeit nämlich war das im englischen Sprachraum als „beer hall putsch“ bekannte Geschehen das Ergebnis von Adolf Hitlers erstem Versuch, die Macht über Deutschland zu ergreifen.

Auf diesem Plakat aus der Nacht vom 8. auf den 9. November 1923 erklärte Hitler die Reichsregierung für abgesetzt.
Auf diesem Plakat aus der Nacht vom 8. auf den 9. November 1923 erklärte Hitler die Reichsregierung für abgesetzt
Quelle: picture-alliance / akg-images

Wer den vermeintlichen „Operettenputsch“ verstehen will, muss auf die Perspektiven der wichtigsten Akteure der Ereignisse im Herbst 1923 schauen. Nur so wird das jeweilige Kalkül nachvollziehbar – und entsprechend die einzelnen Schritte, die schließlich zur Besetzung des Bürgerbräukellers am Abend des 8. November 1923 geführt hatten.

Da war zunächst Adolf Hitler. Seit dem Sommer 1922 war er vom Chef der unbedeutenden Splitterpartei NSDAP zur zwar nicht geachteten, aber gefürchteten Figur der oberbayerischen Politik aufgestiegen. Er wollte dem Erfolg des italienischen Faschistenchefs Benito Mussolinis nacheifern. Dessen überraschende Ernennung zum Ministerpräsidenten in Rom Ende Oktober 1922 hatte Hitler gezeigt, dass der Weg vom gesellschaftlichen Außenseiter an die Macht sehr kurz sein konnte: Es kam unter gewissen Umständen weniger auf reale Stärke an als auf Mut zum Risiko.

Hitler setzte auf den Reiz der Radikalität

Da Hitler instinktiv um die Anziehungskraft vermeintlich schlichter Lösungen für überwältigende Probleme wusste, machte er sich den Reiz der Radikalität zunutze. Vorsätzliche Provokationen wie die bewaffneten Aufmärsche seiner Anhänger beim ersten Parteitag der NSDAP in München am 27. und 28. Januar sowie am 1. Mai 1923 auf dem Oberwiesenfeld zeigten ihm allerdings, dass ein Griff nach der Macht nur gelingen konnte, wenn die Reichswehr in Bayern und die Landespolizei zumindest neutral blieben, besser, wenn sie ihn unterstützten: Ohne Verbündete wäre jeder Vorstoß zum Scheitern verurteilt.

Seinen wichtigsten Partner sah Hitler in General a. D. Erich Ludendorff, dem Kriegshelden des Weltkrieges 1914 bis 1918. Mit ihm, da war sich der NSDAP-Chef sicher, würde er die Masse der Reichswehr auf seine Seite ziehen können. Bei einem nennenswerten Teil der bayerischen Wehrverbände, wenngleich zahlenmäßig immer noch in der Minderheit, war ihm das bereits gelungen. Gleichzeitig verselbstständigte sich das Schlagwort vom „Marsch auf Berlin“ in seinem Denken: Aus der Metapher für ein konzentriertes Vorgehen der völkisch-reaktionären Kräfte gegen die angeblich „verjudete“ Reichshauptstadt wurde immer mehr die Vorstellung, nach dem Vorbild Mussolinis durch schiere Drohung mit Gewalt die Macht ergreifen zu können.

Gustav von Kahr / Foto Kahr, Gustav Ritter von Politiker; Weissenburg 29.11.1862 - Muenchen (ermordet) 30.6.1934. Portraetaufnahme, undat.
Gustav von Kahr Anfang der 1920er-Jahre
Quelle: picture-alliance / akg-images
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Eine völlig andere Perspektive hatte Gustav von Kahr. Der Regierungspräsident von Oberbayern, nun als in der Verfassung gar nicht vorgesehener Generalstaatskommissar Diktator auf Zeit in München, lehnte die Republik zwar nicht weniger scharf ab als Hitler.

Aber seine Vorstellung eines Staatsstreiches sah gänzlich anders aus: Der Impuls, die verhasste Reichsverfassung und ihre parlamentarische Praxis zu stürzen, sollte gerade nicht von der Straße ausgehen, also von einer Massenbewegung wie der Hitler-Partei. Vielmehr wollte Kahr, dass die reaktionären Teile der Oberschicht des früheren Kaiserreiches, vornehmlich aus der höheren Staatsverwaltung, Großindustrie und Reichswehr-Führung, die Initiative übernehmen. Sein Plan zielte auf eine autoritäre Übergangsregierung, ein „Direktorium“, das gestützt auf die bewaffnete Macht die demokratische Revolution von 1918/19 zurückdrehen sollte.

Voraussetzung dafür war, dass Bayern sich als „Ordnungszelle“ bewährte. Eine Massenbasis benötigte Kahr nicht unbedingt, wenngleich sie nicht schaden konnte. Hingegen störte eine kaum bis unberechenbare, jederzeit zu Ausfällen fähige Figur wie Hitler. Jede Form von Chaos schwächte die Aussicht, erfolgreich ein „Direktorium“ zu etablieren. Deshalb war Kahr durchaus bereit, der NSDAP entgegenzukommen, etwa durch antisemitische Maßnahmen. Eine Abspaltung Bayerns oder gar die Wiedererrichtung der Herrschaft der Wittelsbacher hingegen strebte Gustav von Kahr nicht an, obwohl er an monarchistischem Phantomschmerz litt.

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Generaloberst Hans von Seeckt, 1923 Oberbefehlshaber der Reichswehr, mit Reichswehrminister Otto Geßler
Quelle: Bundesarchiv

„Ruhe und Ordnung“ war das zentrale Ziel des dritten Hauptakteurs der Macht-Ränke im Herbst 1923: Reichswehr-Chef Hans von Seeckt lehnte wie Hitler und Kahr den Parlamentarismus grundsätzlich ab und besonders die Beteiligung der SPD an der Regierung. Zugleich aber ging es ihm um die Autorität des Staates an sich. Obwohl mit Friedrich Ebert ein Sozialdemokrat als Reichspräsident die Republik repräsentierte, schreckte Seeckt vor einem Coup gegen das Staatsoberhaupt zurück – zugleich hatte er handschriftlich bereits ein Regierungsprogramm und eine Regierungserklärung für die kommende Militärdiktatur entworfen.

Entscheidend schließlich wurden die zwei Wochen vom 23. Oktober bis 6. November 1923. Der aus Moskau befohlene, gesteuerte und bezahlte Aufstand der deutschen Kommunisten begann – aber nur in Hamburg und so schwach, dass er binnen Stunden von einer Bedrohung zum Ärgernis schrumpfte. Gestützt auf diese Erfahrung war Reichspräsident Ebert bereit, gegen die chaotische rot-rote Regierung in Sachsen durchzugreifen und mit der Reichsexekution zur schärfsten Waffe zu greifen, die er laut Verfassung hatte. Das Staatsoberhaupt bestätigte damit Seeckts Vertrauen.

Weil die Absetzung des SPD-KPD-Kabinetts in Dresden die Große Koalition von Reichskanzler Gustav Stresemann platzen ließ und die SPD ihre Minister zurückzog, entfiel für Seeckt der wesentliche Grund, selbst aktiv nach der Macht in Berlin zu greifen. Am 3. November 1923 teilte der Reichswehrchef seine Entscheidung einem hochrangigen Abgesandtem Kahrs mit und schickte zwei Tage später einen entsprechenden Brief hinterher – vielleicht durch die Verzögerung bewusst demütigend, auf jeden Fall mit entsprechender Wirkung.

Die Entscheidung fiel am 6. November 1923

Daraufhin beschloss Gustav von Kahr, das Vorhaben einer reaktionären Machtübernahme von der „Ordnungszelle Bayern“ aus zumindest vorerst zu begraben – ohne Unterstützung der Reichswehr-Führung in Berlin schien sie aussichtslos. Dieser Kurswechsel war wohl der Grund für die kurzfristige Einladung seiner Anhänger zu einer geschlossenen Veranstaltung in den Bürgerbräukeller für den Abend des 8. November 1923. Hier wollte Kahr dem vorab verbreiteten Text seiner nie ganz vorgetragenen Rede nach eine Positionsbestimmung liefern, aber gerade keinen Aufstand starten. Am Nachmittag des 6. Novembers teilte er seine Entscheidung den Anführern der bayerischen Wehrverbände mit, unter denen auch NSDAP-Anhänger waren.

Alfred Rosenberg (l) und Adolf Hitler (M) bei der Einweihung eines Kriegerdenkmals am 4. November 1923 in München. Der Politiker und Publizist Alfred Rosenberg agitierte als Chefredakteur und Herausgeber des "Völkischen Beobachters" und Überwacher von Schulung und Erziehung der NSDAP gegen Judentum, Marxismus und Demokratie. Als Feind der etablierten Kirchen forderte er einen neuen rassegemäßen Glauben. Alfred Rosenberg wurde am 12. Januar 1893 in Reval geboren und ist am 16. Oktober 1946 in Nürnberg hingerichtet worden.
Adolf Hitler und die Mitverschwörer Alfred Rosenberg (l) und Friedrich Weber (r.) am 4. November 1923
Quelle: picture-alliance / dpa
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Doch die für so eine Versammlung im Bürgerbräu beinahe konspirativen Umstände weckten bei Hitler den Verdacht, sich in einem Wettlauf zum Hochverrat zu befinden. Er setzte einmal mehr, wie bereits beim Kampf um den Vorsitz der NSDAP im Sommer 1921, alles auf eine Karte – ein Muster, das bis in die letzten Kriegstage 1945 typisch für ihn blieb.

Am späten Abend des 6. November 1923 stand seine Entscheidung, am folgenden Tag gingen Befehle an zahlreiche kleine Gruppen von Anhängern in Bayern, aber auch im ganzen Reich hinaus, sich am Abend des 8. November 1923 bereitzuhalten. Hitler wusste noch nicht, dass sich die Bedingungen für seine Version eines „Marsches auf Berlin“ selbst gerade vollkommen gewandelt hatten, weil ihm seine notwendigen Verbündeten, Gustav von Kahr in München und Hans von Seeckt in Berlin, abhanden gekommen waren. So wurde aus Hitlers erstem Griff nach der Macht in Deutschland nach dem Beispiel Benito Mussolinis jene Posse, über die sofort nach dem Scheitern und seither gewitzelt wird.

Sven Felix Kellerhoff: „Der Putsch. Hitlers erster Griff nach der Macht“ (Verlag Klett-Cotta. 368 S., 25 Euro)

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