In der Diskussion über den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) und die wachsende rechtsextreme Gewalt in Deutschland hat der ehemalige CDU-Generalsekretär Peter Tauber in einem WELT-Beitrag gefordert, Artikel 18 des Grundgesetzes anzuwenden. Danach können jenen Grundrechte entzogen werden, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung bekämpfen. Tauber bezieht sich darin auf das berühmte Zitat des Reichskanzlers Joseph Wirth: „Der Feind steht rechts.“ Wir erklären, wie es dazu kam:
Die Eskalation war absehbar gewesen, denn schon Monate währte ein extremer Shitstorm gegen das vorgesehene Opfer. Auf Flugblättern und mit überall in den Städten verteilten Aufklebern, den Tweets der Zeit, war gegen den prominenten Politiker gehetzt worden, ebenso in Studentenverbindungen und völkischen Freundeskreisen im ganzen Land.
Die Hetze gipfelte in perfiden Reimen – zum Beispiel: „Auch Rathenau der Walther / Erreicht kein hohes Alter“ oder „Knallt ab den Walther Rathenau / Die gottverfluchte Judensau.“ Es gab auch die Variante: „Schlagt tot den Walther Rathenau / Die gottverdammte Judensau.“
Der Industrielle, AEG-Chef und Mitbegründer der linksliberalen DDP, der seit Mai 1921 als Reichsminister amtierte, zuerst für den Wiederaufbau, dann seit Ende Januar 1922 für Äußeres, nahm es nur äußerlich gelassen. Seinem guten Freund Harry Graf Kessler jedoch antwortete er schon Anfang April 1922 auf die schlichte Frage: „Wie geht’s?“, indem er eine Browning-Pistole hervorzog und düster sagte: „So geht es.“
Doch solche Vorbereitung nutzte nichts: Am 24. Juni 1922, einem kühlen Samstag, lauerten mehrere ehemalige Offiziere in Berlin seinem Wagen auf. In einer lang gestreckten Kurve in Charlottenburg überholte das Auto der Attentäter Rathenaus offenen Viersitzer. Dabei schossen die Angreifer mit einer Maschinenpistole auf den eleganten Herrn im Fond und rasten dann weiter.
Rathenaus überraschter Chauffeur ließ den Wagen ausrollen und versuchte, seinem Chef Erste Hilfe zu leisten. Eine Krankenschwester, die an der nahe gelegenen Haltestelle auf eine Straßenbahn gewartet hatte, half. Doch es war zu spät: Wenige Minuten später erlag der Reichsaußenminister in ihren Armen seinen schweren Verletzungen.
Als die Nachricht vom Mord an Rathenau den auch am Wochenende tagenden Reichstag erreichte, gingen die Emotionen hoch. Parlamentspräsident Paul Löbe (SPD) forderte die Abgeordneten auf, „Tätlichkeiten in diesem Haus“ zu unterlassen.
Doch an eine geordnete Beratung war nicht zu denken, weshalb Löbe die Sitzung vorzeitig schloss. Auch die nächste, für denselben Abend einberufen, dauerte nur wenige Minuten, dann vertagte der Reichstagspräsident auf den folgenden Mittag. Wichtigster Punkt der Tagesordnung: die Reaktion auf den Mord an Rathenau.
Das Reichskabinett hatte noch am Samstag eine „Verordnung zum Schutz der Republik“ beraten, die harte Maßnahmen gegen rechtsextreme Gruppen vorsah. Reichskanzler Joseph Wirth, ein Vertreter des linken, sozialpolitischen Flügels der katholischen Zentrumspartei, bevorzugte freilich ein ordentliches Gesetz, das der Reichstag beschließen musste. Doch dort hatte Wirths Koalition aus Zentrum, der DDP und der SPD keine eigene Mehrheit.
Also musste der Kanzler die Unterstützung weiterer Parteien gewinnen – vor allem der Linken aus der USPD und der katholischen Regionalpartei aus Bayern, der BVP, vielleicht auch der nationalliberalen DVP. Eine schwierige Aufgabe. Wirth ging sie frontal an.
Vor ihm sprachen der Sozialdemokrat Otto Wels, der eine kämpferische Rede hielt, und Wirths Fraktionskollege Wilhelm Marx. Er bezog zwar klar Position gegen den Mord, versuchte ansonsten aber die Emotionen zu dämpfen. Dann erklärte sich der Vorsitzende der rechtskonservativen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), Oskar Hergt. Er gehörte dem gemäßigten Flügel der Partei an und bekundete „tiefste Entrüstung und Empörung über die verruchte Tat“ der Rathenau-Mörder.
Die anderen Fraktionen sahen darin ein billiges Ausweichmanöver. Denn zu den übelsten Hetzern gegen den Außenminister hatte Karl Helfferich gezählt, wie Hergt Mitglied der DNVP-Fraktion, allerdings des rechtsextremen Flügels. Indem die DNVP ihren innerparteilich als nicht radikal genug geltenden Vorsitzenden ans Rednerpult schickte, provozierte sie eine entschiedene Reaktion. Sie kam im Namen der Reichsregierung.
Zutreffend antwortete Reichsjustizminister Gustav Radbruch (SPD): „Wenn Herr Hergt hier erklärt, zu Unrecht sei eine Mitschuld der DNVP behauptet worden, irgendeine Mitschuld dieser Partei könne nicht bewiesen werden, so ist das nichts als Spiegelfechterei.“ Tatsächlich lagen reihenweise extreme Attacken von Vertretern des reaktionären DNVP-Flügels gegen Rathenau vor: in Broschüren, Flugblättern und deutschnationalen Zeitungen. Radbruch zitierte daraus.
Dann trat Wirth ans Rednerpult. Er wollte in einer Gedenkrede die Verdienste Walther Rathenaus darlegen, was am Vortag wegen der Erregung im Parlament unmöglich gewesen war.
Wie um Radbruchs Kritik zu bestätigen, tobte zumindest ein Teil der DNVP-Abgeordneten. Wiederholt musste Löbe die Rechtsextremen zur Ruhe rufen. Es entspann sich ein rhetorisches Duell zwischen Wirth, der eigentlich kein brillanter Redner war, und der äußersten Rechten.
Der Reichskanzler rief dazu auf, eine Demokratie aufzubauen, die „geduldig in jeder Lage für das eigene unglückliche Vaterland eine Förderung der Freiheit sucht!“ Den Populismus, der „auf den Tisch schlägt und sagt: ,Wir sind an der Macht‘“, lehnte Wirth hingehen kategorisch ab.
Dann schloss er seine emotionale Rede mit den bekanntesten Worten seiner Karriere. Er wies auf jenen Teil des Saals, in dem die DNVP-Abgeordneten empört mit dem Füßen scharrten, und rief: „Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt. Da steht der Feind, und darüber ist kein Zweifel: Dieser Feind steht rechts!“
Die Abgeordneten der Mitte und des linken Flügels sowie die meisten Besucher auf den Tribünen honorierten diese Klarheit mit stürmischem Beifall. Harry Graf Kessler, eigentlich kein Freund Wirths, notierte: „Man fühlt, es kommt eben wirklich aus der Tiefe seiner Überzeugung. Ich habe dem Mann Unrecht getan; er ist doch jemand.“
Als Folge dieses beeindruckenden Auftritts verabschiedete der Reichstag vier Wochen später das Republikschutzgesetz, das die Feinde der Demokratie in ihre Schranken weisen sollte. Allerdings wurden nur eindeutig antisemitische Gruppen wie der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund (DvSTB) verboten, nicht jedoch die DNVP und auch noch nicht die kleine NSDAP.
Wirths Auftritt hatte so zwar Folgen, aber keine hinreichenden. Denn die DvSTB-Mitglieder wechselten zum großen Teil in Hitlers Partei. Die demokratische Entschiedenheit hatte zu kurz gegriffen.
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