Deutschland war sich einig: Die französisch-belgische Besetzung des Ruhrgebiets war ein Skandal. Über alle politischen Konflikte hinweg sah man das von Flensburg bis Garmisch, vom (gleichfalls besetzten) Aachen bis nach Königsberg so; linke Sozialdemokraten unterschieden sich im Januar 1923 darin nicht von reaktionären Deutschnationalen.
Gerade diese Einigkeit wurde zum Problem für die bisher radikalste Stimme der deutschen Politik, die NSDAP. Denn gleich den deutschen Kommunisten konnte Parteichef Adolf Hitler nicht einstimmen in die allgemeine Klage; das hätte seiner Bewegung endgültig ihr Alleinstellungsmerkmal gekostet.
Also musste er anders reagieren – und entschied sich für einen Befreiungsschlag. Das Ziel: Seine Bewegung als radikale Alternative zur Einheitsfront von SPD bis DNVP darstellen und möglichst gleichzeitig die bayerische Regierung vorführen. Also benannte er die laut Vereinsgesetz Ende Januar anstehende Generalmitgliederversammlung der NSDAP zum ersten „Reichsparteitag“ um. Als wesentliche Programmpunkte plante Hitler gleich zwölf parallele Versammlungen in München, auf denen er nacheinander kurz sprechen wollte, sowie einen öffentlichen Aufmarsch am folgenden Tag.
Bayerns katholisch-konservativer Ministerpräsident Eugen von Knilling (Bayerische Volkspartei) verstand das Kalkül nicht: Gegen wen richtete sich der NSDAP-Chef eigentlich? In Bayern regierte ein rechtes Kabinett, das im Gegensatz etwa zum sozialdemokratisch dominierten Preußen der Hakenkreuz-Bewegung weit entgegengekommen war. Zum Beispiel hatte Knilling die braune Partei nicht verboten. In Berlin amtierte die bürgerliche Regierung von Reichskanzler Wilhelm Cuno, die mit dem Aufruf zum passiven Widerstand um jeden Preis gegen die Ruhrbesetzung das glatte Gegenteil der „Erfüllungspolitik“ umsetzte, die Hitler in praktisch jeder seiner Reden geißelte.
Knilling konnte kein konkret politisches Ziel hinter dem Vorgehen der Nationalsozialisten erkennen. Daher lag nahe, dass Bayerns Innenminister Franz Xaver Schweyer und sein Polizei-Referent Josef Zetlmeier recht hatten. Beide warnten intern schon seit Ende 1922, dass bei der nächsten Großveranstaltung der NSDAP ein Putsch drohe. Angesichts des kurzfristig angekündigten „Reichsparteitages“ regte Schweyer an, über Bayern den Ausnahmezustand zu verhängen. Zunächst aber beschloss der Ministerrat nur, Veranstaltungen unter freiem Himmel zu untersagen.
Als dieses Verbot Hitler zugestellt wurde, fügte er sich nicht etwa, sondern „brachte in leidenschaftlichen Worten seine Entrüstung gegen die ihm mitgeteilte ministerielle Weisung zum Ausdruck“, wie die Münchner Polizeidirektion festhielt. Es folgte im Protokoll eine unmissverständliche Drohung des NSDAP-Chefs: „Herr Hitler redete sich immer weiter in die Aufregung hinein. Die Regierung könne schießen, er werde sich an die Spitze stellen und man könne ihn auch erschießen.“ Zwei Stunden nach dem ersten Schuss werde die Regierung jedoch „erledigt“ sein.
Nach dieser vehementen Reaktion trat das bayerische Kabinett erneut zusammen. Der neue Kommandeur des bayerischen Wehrkreises VII der Reichswehr, General Otto von Lossow, sprach sich dabei gegen ein hartes Vorgehen aus. Doch das hatte ihm sein Mitarbeiter Hauptmann Ernst Röhm eingeflüstert – der selbst ein überzeugter Nationalsozialist war.
Also empfahl Lossow dem Kabinett, Hitler genügend Spielraum zu lassen, damit er sein Gesicht wahren könne: „Seiner Bewegung könne nur langsam das Wasser abgegraben werden, nicht in zwölf Stunden.“ Falls die NSDAP tatsächlich Ernst machen wolle, habe die Reichswehr die Lage im Griff, auch wenn es in der Truppe Sympathien für Hitler gebe.
Die Polizei rechnete mit bis zu 40.000 Teilnehmern, von denen 15.000 echte Hitler-Anhänger seien. Schließlich entschied sich der Ministerrat für einen Kompromiss: Knilling verhängte den Ausnahmezustand, erlaubte Hitler aber nach dessen Versprechen, für einen „vollständig einwandfreien Verlauf des Parteitages“ zu bürgen, einen öffentlichen Aufmarsch auf dem Marsfeld nördlich der Gleise des Münchner Hauptbahnhofes und sechs parallele Versammlungen in verschiedenen Bierkellern.
Genau dieses Hin und Her nutzte der NSDAP-Chef: „Hitler gebärdete sich über die neuerliche Maßnahme geradezu verzweifelt“, hielt Münchens Polizeipräsident Eduard Nortz fest: „Durch den fortgesetzten Wechsel in den Entscheidungen seien seine Leute und seine Gäste schon fast außer Rand und Band, und es sei gar nicht zu vermeiden, dass bei einer Programmänderung Schwierigkeiten ernstester Art entstünden.“ Weil angeblich die Verteilung der Plakate nicht mehr gestoppt werden konnte, fanden am Abend des 27. Januar 1923 alle geplanten zwölf Versammlungen statt und nicht wie genehmigt sechs.
Das SPD-Blatt „Vorwärts“ bilanzierte treffend: „Hitler marschiert. Er kümmert sich den Teufel um Ausnahmezustand und die Wünsche der bayerischen Regierung.“ Mindestens 20.000 Sympathisanten kamen in die zwölf Großlokale; alle hörten nacheinander ähnliche Reden. Stets erhob der NSDAP-Chef heftige Vorwürfe gegen die „Revolutionsverbrecher“ und den „inneren Feind“.
Außerdem wies Hitler die Gerüchte über einen bevorstehenden Putsch der NSDAP zurück: „Es sei falsch zu behaupten, dass die Partei der Regierung gedroht habe; sie habe nur erklärt, dass, wenn die Regierung die Abhaltung des Parteitages verhindere, sie dann auch die Konsequenzen zu tragen habe.“ Das sollte keine Drohung sein?
Am folgenden Vormittag, dem 28. Januar 1923, versammelten sich NSDAP-Anhänger und Sympathisanten auf dem Marsfeld; Hitler nahm eine Parade von 6000 Männern ab. Nur maximal ein Viertel der Marschierer gehörte zur SA, und selbst diese Männer waren aus ganz Bayern zusammengezogen worden. Obwohl also die Masse gar nicht erklärte Anhänger der Hitler-Bewegung waren, wirkte der Aufmarsch wie eine reine NSDAP-Veranstaltung. Das lag einerseits an der Präsenz Hunderter oft selbst genähter Hakenkreuzfahnen und andererseits an der persönlichen Dominanz Hitlers.
„Es herrscht hier nun mit Recht allgemein das Gefühl, dass die Regierung sich gründlich blamiert habe, und es kursierte heute morgen schon das Gerücht vom Rücktritt des Ministers des Innern“, berichtete Carl Moser von Filseck, der Gesandte des Landes Württemberg in München, an die Landesregierung in Stuttgart: „Die Abendblätter bringen ein Dementi, aber es besteht zweifelsohne eine Krise, deren Verlauf sich noch nicht voraussagen lässt.“
Grund war die Unentschiedenheit Knillings, der sich hatte vorführen lassen: „Das Ansehen der Regierung hat dadurch einen sehr bedauerlichen Stoß erlitten, und zwar sowohl auf der rechten ebenso wie auf der linken Seite.“ Mit viel Chuzpe und Rücksichtslosigkeit hatte Hitler es geschafft, sich durchzusetzen: Er war eindeutig der Sieger des Kräftemessens rund um den ersten Reichsparteitag der NSDAP.
Sie finden „Weltgeschichte“ auch auf Facebook. Wir freuen uns über ein Like.
„WELT History“ – jetzt abonnieren unter anderem bei Spotify, Apple Podcast, Deezer, Amazon Music, Google Podcasts oder direkt den RSS-Feed.