Der Ministerpräsident wollte nicht mehr Regierungschef sein. So zerstritten waren die Parteien Italiens im Spätsommer 1922, dass sie sich nicht auf ein neues Kabinett einigen konnten. Nur auf persönlichen Wunsch des Staatsoberhauptes fand sich der bisherige Premier Luigi Facta bereit, doch noch einmal eine weitere Ministerriege zu bilden. Eine handlungsfähige Regierung freilich konnte so nicht entstehen.
Für Benito Mussolini war das die Chance seines Lebens. Der „Duce“ („Führer“) der Partito Nazionale Fascista (PNF) erkannte, dass es jetzt nur noch eines Anstoßes bedurfte, den schwachen italienischen Staat zum Einsturz zu bringen und selbst die Macht an sich zu reißen. Der wortmächtige frühere Sozialist ließ überall in Italien seine Anhänger mobilmachen, Demonstrationen, Versammlungen und Aufmärsche veranstalten.
Hundert Jahre später ähnelt die Lage in Italien der Situation im Spätsommer 1922 erstaunlich: Wieder sind die bisher dominierenden Parteibündnisse, das Mitte-rechts-Lager, das Mitte-links-Lager und die populistische, gegen das Establishment gerichtete Bewegung Fünf Sterne, heillos zerstritten. Wieder war der bisherige Ministerpräsident, Mario Draghi, zurückgetreten und nur noch geschäftsführend im Amt.
Und wieder nutzte eine rechtsgerichtete Partei die Chance: Die Parlamentswahlen am 25. September 2022 gewannen eindeutig die Fratelli d’Italia (Brüder Italiens), die auf die 1946 gegründeten Neofaschisten (Movimento Sociale Italiano) zurückgehen.
Im Gegensatz zu 2022 konnten Mussolini und seine Partei 1922 nicht auf auf einen ziemlich klaren Wahlsieg aufbauen. Stattdessen setzte der „Duce“ auf Personalpolitik. Um den Nervenkrieg mit der Regierung Facta zu bestehen, zu der die italienische Armee immer noch loyal stand, berief Mussolini mit Emilio De Bono einen angesehenen General des Ersten Weltkrieges in die Führung seiner faschistischen Milizen, der „Schwarzhemden“.
Damit gab es für die wesentlichen Gruppen, die der Faschismus gewinnen musste, je eine Bezugsperson: für die aktiven Soldaten den General De Bono, für die Monarchisten den Rechtsanwalt Cesare Maria De Vecchi, für die oft jungen Veteranen der Kämpfe 1915 bis 1918 den fronterfahrenen Offizier Italo Balbo und für die Arbeiter den Ex-Gewerkschafter Michele Bianchi.
Das steigerte die Sorge, die Faschisten planten einen Staatsstreich. Bianchi konnte diesen Verdacht nicht ausräumen, obwohl er am 6. Oktober verkündete: „Es ist wahr, sehr wahr, dass wir von einem ,Marsch auf Rom‘ gesprochen haben und noch sprechen, aber es handelt sich um einen Marsch, der – das sollten auch die größten Laien verstehen – ganz spirituell, ich möchte sagen: legal ist.“ Zumindest Luigi Facta glaubte das offenbar nicht, denn er ließ die Forts rund um Rom alarmieren. Besorgten Abgeordneten versicherte der Ministerpräsident: „Ich habe befohlen, dass man die Kanonen schmiert.“
Die Entscheidung fiel am 16. Oktober 1922. An diesem Tag setzte Mussolini kurzfristig für die kommende Woche einen PNF-Parteitag in Neapel an. Im Anschluss an diese öffentliche Heerschau würden am 27. Oktober alle „Schwarzhemden“ mobilmachen, in ihren Heimatregionen die „öffentlichen Gebäude in den wichtigsten Städten“ besetzen, also Rathäuser, Polizeiwachen, Bahnhöfe und Postämter, danach zu Sammelpunkten rund um Rom kommen. Mit dieser Drohkulisse sollte ein „Ultimatum an die Regierung Facta zur generellen Abtretung der Staatsmacht“ gestellt werden, anschließend der „Einmarsch in Rom“ erfolgen.
An dem Parteitag in Neapel, einer traditionell linken Region, nahmen 15.000 bis 30.000 Männer teil. Mussolini donnerte in seiner Rede: „Ich schwöre, dass entweder die Regierung dieses Landes friedlich den Faschisten übertragen wird oder wir sie uns mit Gewalt nehmen werden!“ Die Zuhörer skandierten: „Nach Rom!“ Mussolini selbst aber reiste erst einmal heim nach Mailand und überließ den vier Männern an der Spitze der Miliz das Weitere. Für ihn spielte der eigentliche „Marsch“ auf die Hauptstadt eine kleinere Rolle. Ihm ging es vor allem um das Drohpotenzial.
Am 26. Oktober warnten Facta und sein Innenminister alle Präfekturen vor Aufständen der Faschisten. Trotzdem konnten die Behörden nicht verhindern, dass in verschiedenen Städten „Schwarzhemden“ Schlüsselstellen besetzten. Zuerst war Pisa an der Reihe, anschließend Siena, später am selben Tag Cremona und Perugia. Sobald die Faschisten die Lage in einer Stadt einigermaßen unter Kontrolle hatten, beschlagnahmten sie Lastwagen und Autos, um möglichst viele Milizionäre auf den Weg nach Rom zu schicken.
Panik erfasste das Kabinett: Ministerpräsident Luigi Facta trat mitten während des offenen Angriffs auf den Staat zurück – er wolle Platz machen für eine „starke Regierung“, erfuhr ein amerikanischer Journalist. Wenig später beschloss das nur noch geschäftsführende Kabinett dennoch, den König um die Verhängung des Belagerungszustandes zu ersuchen, also um Kriegsrecht. Weiterhin sprachen die Kräfteverhältnisse zugunsten des Staates: An den Sammelpunkten rund um Rom befanden sich am 27. Oktober höchstens 5000 „Schwarzhemden“, etwa doppelt so viele waren auf dem Weg. Der Armee standen in den Garnisonen in und um die Hauptstadt deutlich mehr Soldaten zur Verfügung.
Doch der Dynamik der Faschisten konnte die verunsicherte Staatsverwaltung nichts entgegensetzen: In der Nacht vom 27. auf den 28. Oktober besetzten „Schwarzhemden“ in Dutzenden weiteren Städten von Triest und Venedig im Nordosten bis Foggia im Südosten, von Aquila in den Abruzzen bis nach Alessandria im Nordwesten Präfekturen und Postämter.
Am Morgen des 28. Oktober kontrollierten in den meisten Städten Nord- und Mittelitaliens Faschisten die Nachrichtenverbindungen; im Süden waren sie weit weniger stark. In Rom war die Lage ruhig. Seit Mitternacht sicherten regierungstreue Soldaten strategische Punkte der Stadt, auch den Königspalast.
Um sechs Uhr morgens versammelte sich die geschäftsführende Regierung und formulierte das Gesetz über den Belagerungszustand, der faktisch bereits galt. Luigi Facta machte sich mit dem Entwurf auf den Weg zu Vittorio Emanuele III., in der Erwartung, der Monarch werde ihn unterstützen. Doch der König, angewidert von der Wankelpolitik des Premiers und seiner Partner, lehnte ab. Er war überzeugt, dass die Regierungsübernahme durch die Faschisten nur noch um den Preis eines Bürgerkriegs verhindert werden konnte. Gegen Mittag wurde das formell gar nicht verhängte Kriegsrecht aufgehoben.
Am Nachmittag des 28. Oktober, als sich Armee und Polizei weitgehend in ihre Kasernen zurückgezogen hatten, gingen in vielen Städten „Schwarzhemden“ gegen unabhängige und politisch links stehende Zeitungen vor. Redaktionen und Druckereien wurden besetzt, Druckmaschinen beschädigt oder sogar zerstört. Die faschistische Revolution war auf dem Vormarsch.
Am folgenden Morgen ließ der König an Benito Mussolini in Mailand telegrafieren und bot ihm das Amt des Ministerpräsidenten an. Der „Duce“ nahm an und fuhr mit dem Nachtzug nach Rom. Die Nachricht verschaffte den Faschisten Oberwasser: In der Hauptstadt veranstalteten am Vormittag des 30. Oktober Tausende Mussolini-Anhänger spontane Freudenumzüge.
An den Sammelpunkten rund um Rom standen immer noch „Schwarzhemden“ bereit und warteten auf den Befehl loszumarschieren, inzwischen 30.000 bis 40.000 Mann. Die meisten waren unzufrieden: Es regnete in Strömen, Zelte gab es kaum, vorbereitete Latrinen schon gar nicht, selbst an Verpflegung mangelte es. Doch am 30. Oktober sorgte der Staat für Abhilfe – die Armee versorgte die durchnässten Faschisten, und so machten sie sich doch noch auf den Weg. Am 31. Oktober fand so der schon gar nicht mehr notwendige „Marsch auf Rom“ tatsächlich statt.
In einigen Arbeitervierteln der Hauptstadt kam es nun zu Barrikadenkämpfen zwischen „Schwarzhemden“ und Kommunisten, bei denen etwa 20 Menschen starben und rund hundert verletzt wurden. Dann hatte Mussolini gesiegt. Sein Plan, mit massiver Gewalt bis hin zu offenem Bürgerkrieg zu drohen und sich in dieser zumindest zum Großteil von seinen Anhängern herbeigeführten Lage als Garant der öffentlichen Ordnung anzubieten, war voll aufgegangen.
Die Vorgänge in Italien wurden weltweit aufmerksam beobachtet. Der international bestens vernetzte Ex-Diplomat Harry Graf Kessler notierte nach Mussolinis Sieg in sein Tagebuch: „Die Faschisten haben durch einen Staatsstreich die Gewalt an sich gerissen in Italien.“ Hellsichtig fügte er hinzu: „Wenn sie die Macht behalten, so ist das ein geschichtliches Ereignis, das nicht bloß für Italien, sondern für ganz Europa unabsehbare Folgen haben kann.“
In München trat wenig später ein junger Mann namens Hermann Esser auf, der sich mit dem Titel „Propagandaleiter“ schmückte. Den im Zirkus Krone versammelten Anhängern der Splitterpartei NSDAP schrie er zu: „In Italien ist es einer Handvoll national gesinnter Männer gelungen, Ordnung zu schaffen. Auch wir werden einen Mussolini haben, wenn anders keine Ordnung zu erreichen ist. Es ist der Führer der Nationalsozialisten, Adolf Hitler.“ Und Esser fügte hinzu: „Nur die nationale Diktatur kann Ordnung schaffen, der Parlamentarismus ist ein Schwindel.“
Das ist ein Gefühl, das ganz ähnlich auch im italienischen Wahlkampf 2022 formuliert worden ist. Wahrlich eine Parallele zum Fürchten.
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