Viewpoint

Ist die Ehe überholt? Emilia Roig plädiert für “Das Ende der Ehe”

"Für eine Revolution der Liebe" und gegen patriarchalische Unterdrückungsmechanismen: Politologin, Bestseller-Autorin und Aktivistin Dr. Emilia Roig hat ein neues Buch über “Das Ende der Ehe” geschrieben - hier reflektiert sie darüber
Das Ende der Ehe das neue Buch von Emilia Roig
Philomena Wolflingseder 

Autorin und Aktivistin Dr. Emilia Roig plädiert im Viewpoint der aktuellen VOGUE-Juniausgabe für das Ende der Ehe:

Ich kam mir wichtig vor, als würde ich einen bedeutenden Beitrag zur Gesellschaft leisten. Es war einer der schönsten Tage meines Lebens. Aber dieses Gefühl verflog schnell. Frauen wachsen auf mit der Botschaft: Ehe und Kinder sind das, was dich glücklich machen wird. Es ist das ultimative Glücksversprechen. Als ich nach der Heirat dieses Glück nicht empfand, dachte ich, irgendwas stimme nicht mit mir. Ich fühlte mich ausgebeutet und unterdrückt, konnte aber nicht genau sagen, warum. Das änderte sich, als ich mit meiner Dissertation begann. Meine Doktorarbeit beschäftigte sich mit der Diskriminierung von Frauen of Color auf dem Arbeitsmarkt und insbesondere mit Care-Arbeit. Ich lernte Begrifflichkeiten für Phänomene und Strukturen und erkannte meine Geschichte darin. Zu Hause lag die Care-Arbeit auf meinen Schultern. Obwohl ich arbeitete, kümmerte ich mich zu 80 Prozent um unser Kind und den Haushalt.

Dr. Emilia Roig: Warum die Institution Ehe Frauen systematisch ausnutzt

Der Staat profitiert davon, dass Frauen Care-Arbeit unbezahlt und unsichtbar leisten, indem er mit der Ehe eine Institution geschaffen hat, die genau das begünstigt. Die Akkumulation von Kapital kann nur geschehen, weil Frauen diese Care-Arbeit gratis geleistet haben und es immer noch tun. Ohne Care-Arbeit würde die Gesellschaft zusammenbrechen – ihr Wert wird aber nicht abgebildet im Bruttoinlandsprodukt oder anderen Berechnungen von wirtschaftlichem Wachstum. Und jetzt, da im globalen Norden mehr und mehr Frauen auf dem Arbeitsmarkt tätig sind, passiert das auf Kosten anderer Frauen. Frauen aus benachteiligten sozialen Klassen, aus anderen Teilen der Welt übernehmen als Nannys und Reinigungskräfte die Care-Arbeit zu schlechter Bezahlung und schlechten Konditionen. Für den Staat ist es eine billige und praktische Lösung. Und wer ist noch mal der Staat? Das sind überwiegend verheiratete Männer, die die meiste Macht innehaben. Sie profitieren von dieser Situation.

Es ist erwiesen, dass es Männern besser geht, wenn sie verheiratet sind, Frauen hingegen schlechter. Verheiratete Männer sind im Schnitt gesünder, leben länger, sind glücklicher und sammeln mehr Vermögen an als unverheiratete oder geschiedene Männer – und auch im Vergleich zu verheirateten Frauen. Warum? Verheiratete Männer haben eine Person, die sich die ganze Zeit um sie kümmert, in allen Bereichen, und der Staat begünstigt ihr Wohlergehen. Für die Frauen hat diese Ungleichbehandlung nicht nur mentale und physische Folgen. Vom Gender-Pay-Gap, der Lohnlücke zwischen Frauen und Männern, hören wir ständig. Aber da gibt es den Gender-Pension-Gap, den Unterschied der Rentenansprüche, den Gender-Tax-Gap, die ungleiche Besteuerung, und die Gender-Capital-Gap, die Vermögenslücke zwischen Frauen und Männern. Die Ehe ist das Instrument, das die institutionalisierte Beraubung der Frauen ermöglicht. Das Ehegattensplitting begünstigt dies zusätzlich. Es herrscht ja diese Illusion, dass die Ehe Sicherheit gibt. Statistiken zeigen jedoch, dass Frauen häufig von ihren Ehemännern verlassen werden, wenn sie schwer erkranken. Umgekehrt ist das seltener der Fall. Wenn die Männer krank werden, bleiben die
Frauen meistens, weil Frauen sozialisiert werden, diese fürsorgliche Rolle einzunehmen. Hinzu kommen Themen wie unerfüllte Sexualität. Es gibt eine kollektive Verdrängung von Frauen über ihre Unzufriedenheit in Beziehungen, sowohl auf der emotionalen als auch auf der sexuellen Ebene. Auch in meinem direkten Umfeld habe ich Beispiele von verheirateten Frauen, für die Orgasmen Soloerlebnisse bleiben. Sie sind zwar unglücklich darüber, aber haben sich damit abgefunden.

Bestseller-Autorin Dr. Emilia Roig über "Das Ende der Ehe"

Noch bevor mein Buch erschien, gab es heftige Reaktionen. Ich bekam Hassbotschaften von Menschen, die durch den Titel maximal getriggert waren. Einige erzählten mir: "Meine Beziehung ist anders." Das kann natürlich sein, aber heterosexuelle Beziehungen sind immer in patriarchale Muster eingebettet. Und eine "schöne Ehe" ändert nichts an der Tatsache, dass die Ehe als Institution die Ungleichheit und Unterdrückung von Frauen produziert und aufrechterhält. Diese Reaktionen sind auch eine Art Selbstschutz. Denn wenn man sich ernsthaft damit beschäftigt, muss man sich auf eine Reise begeben, die möglicherweise den ganzen Lebensentwurf infrage stellt. Aber wenigstens lebt man die Beziehung dann mit einer Transparenz und nicht mit einer Grundverleugnung eines Systems, das eben trotzdem präsent ist.

Emilia Roigs neues Sachbuch "Das Ende der Ehe" erschien gerade im Ullstein Verlag. Emilia Zenzile Roig ist promovierte Politikwissenschaftlerin und Gründerin des Center for Intersectional Justice (CIJ)
in Berlin. Sie unterrichtet an verschiedenen Universitäten und hält Keynotes und Vorträge zu Intersektionalität, Feminismus, Rassismus sowie Diskriminierung.


Ullstein Verlag

Was können wir also tun? Zunächst einmal müssen wir uns der Care-Arbeit und der emotionalen Arbeit bewusst werden. Nur wenn wir das sehen, merken wir, was für eine wichtige Rolle sie in unserer Gesellschaft spielt. Wir Frauen sollten uns fragen: Was ist die Care-Arbeit, die ich leiste, und was macht das mit mir? Gesellschaftlich müssen wir versuchen, diese patriarchale Ungerechtigkeit zu lösen. Es reicht nicht, einfach nur die Ehe als staatlich geförderte Institution abzuschaffen. Wenn Frauen nach wie vor die überwiegende Mehrheit der Care-Arbeit leisten und deshalb weniger verdienen, dann sind wir nicht weiter, sondern in einer katastrophalen Situation. Die Abschaffung der Ehe muss mit einer Aufwertung der Care-Arbeit einhergehen. Das heißt, dass diese Arbeit bezahlt werden sollte. Solange wir im Kapitalismus nicht von Liebe allein leben können, braucht diese Arbeit eine Bezahlung.

Mein Traum ist eine Gesellschaft, in der wir erkennen, dass Care-Arbeit das ist, was uns am Leben erhält und uns miteinander verbindet. Es ist die Arbeit der Liebe. Und deshalb ist es eine Arbeit, die anerkannt, gewürdigt und auch bezahlt wird. Die reine Lohnarbeit verliert an Stellenwert. Es herrscht Balance zwischen Lohnarbeit und Care-Arbeit, und dies zwingt Menschen nicht mehr dazu, in Kernfamilien leben zu müssen, sondern sie können sich auch anders organisieren, in anderen Lebensformen leben und Fürsorge-Netzwerke entwickeln. Romantische Beziehungen wird es immer geben, und das ist schön so! Aber andere Formen der Liebe wären ihr gleichwertig. Freundschaften zum Beispiel. Dieser Traum wird vermutlich nicht zu meinen Lebzeiten wahr werden, die Ehe wird nicht in den nächsten 40 oder 50 Jahren abgeschafft. Aber es werden Sachen passieren, die uns dem näher bringen werden. Veränderungen gibt es immer.

Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Mai-Ausgabe 2023. Entdecken Sie das Heft im Zeitschriftenhandel oder lassen Sie es sich bequem nach Hause liefern – zum Beispiel über Amazon.

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