Leben im Untergrund ist immer anstrengend. Wer von der Polizei gesucht wird, braucht Geld, gute Nerven – und Unterstützer. Doch schon im Frühjahr 1971, ein knappes Jahr nach der gewaltsamen Befreiung des Kaufhausbrandstifters Andreas Baader in West-Berlin, mangelte es ihm und seinen Helfershelfern an allem drei.
Geld war noch das geringste Problem. War die Beute aus einem Banküberfall aufgebraucht, dann begingen Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und andere Anhänger der noch namenlosen Gruppe eben den nächsten. Am 15. Januar 1971 hatten sie gleichzeitig in zwei Sparkassen in Frankfurt und Kassel zusammen 114.715 DM erbeutet – das würde erst einmal eine Zeitlang reichen.
Schlimmer war, dass Baader, immer schon ein egozentrischer Narzisst, die anderen Illegalen zu dominieren versuchte. Kritik an seinen oft sprunghaften, widersprüchlichen Entscheidungen fegte er „mit ein paar Wortfetzen vom Tisch“, wie das zeitweilige Gruppenmitglied Beate Sturm aussagte: „Jeder in der Gruppe müsste hart genug sein, um den Druck der Illegalität zu ertragen.“
Meinhof, die ehemalige Vorzeigejournalistin linker Kreise, monierte, dass es „so chaotisch nicht mehr weitergehen“ könne. Auf Baader und seine ihm fast hörige Freundin Ensslin machte das keinen Eindruck, erinnerte sich Sturm: „Wenn die politische Diskussion anfangen sollte, hat Baader sofort alles abgewürgt.“
Das führte auch dazu, dass die Gruppe nun den Sympathievorschuss, den ihnen der Linksaußen-Flügel des Bildungsbürgertums im Sommer 1970 gewährt hatte, weitgehend aufgebraucht hatte. Ein knappes Jahr nach Baaders Befreiung hatte die Gruppe viele Straftaten begangen, aber keine einzige nur ansatzweise „politische“ Aktion umgesetzt.
Es war Zeit für eine neue programmatische Äußerung, fand Meinhof, denn: „Viele Genossen wollen wissen, was wir uns dabei denken.“ Also landete in der zweiten Aprilhälfte 1971 ein 16 Seiten langes Papier mit dem Titel „Konzept Stadtguerilla“ in den Briefkästen bekannter Linker und mehrerer Redaktionen.
Der Text begann erkennbar beleidigt: „Einige Genossen sind in ihrem Urteil über uns schon fertig. Für sie ist es eine ,Demagogie der bürgerlichen Presse‘, diese ,anarchistische Gruppe‘ mit der sozialistischen Bewegung überhaupt in Verbindung zu bringen“, hieß es gleich auf der vierten Seite, nach dem Titelblatt, einer vakanten Seiten und einem langen, übergroß gesetzten Mao-Zitat von 1939.
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Anschließend distanzierte sich der Text von Ulrike Meinhofs selbst besprochenem Tonband, aus dem das Magazin „Der Spiegel“ am 14. Juni 1970 Auszüge gedruckt hatte, unter anderem die Bemerkung „Bullen sind Schweine, und natürlich kann geschossen werden“, die in der linke Szene für Unbehagen gesorgt hatte. Im „Konzept Stadtguerilla“ hieß es nun, dieses Tonband sei „ohnehin nicht authentisch und stammte aus dem Zusammenhang privatistischer Diskussion“.
Daher gab das Konzept nun eine andere, scheinbar zurückhaltendere Devise aus: „Wir schießen, wenn auf uns geschossen wird. Den Bullen, der uns laufen lässt, lassen wir auch laufen.“ Das sollte wohl den Unmut vieler potenzieller Unterstützer über den Satz „Bulle sind Schweine“ dämpfen.
Doch im Kern bestätigte das „Konzept Stadtguerilla“ eben doch Meinhofs Drohung. Denn der Text behauptete, am 14. Mai 1970, bei der Befreiung Baaders aus einer Bibliothek in West-Berlin, hätten „die Bullen zuerst geschossen“.
In Wirklichkeit hatte das vierköpfige Kommando unter Ensslins Leitung den völlig unbeteiligten (und natürlich unbewaffneten) Angestellten Georg Linke mit einem Bauchschuss lebensgefährlich verletzt, bevor überhaupt die Türen zum Lesesaal geöffnet waren, in dem Baader und Meinhof sowie zwei Justizbeamte als Wachen saßen.
Mit der Beschimpfung bisheriger Helfershelfer ging es im Text weiter: „Auch viele Genossen verbreiten Unwahrheiten über uns. Sie machen sich damit fett, dass wir bei ihnen gewohnt hätten, dass sie unsere Reise in den Nahen Osten organisiert hätten, dass sie über Kontakte informiert wären, über Wohnungen, dass sie was für uns täten, obwohl sie nichts tun.“ Das Urteil fiel deutlich aus: „Wir haben mit diesen Schwätzern, für die sich der antiimperialistische Kampf beim Kaffeekränzchen abspielt, nichts zu tun.“ Für eine Werbung um Unterstützung im linken Milieu war das eine seltsame Taktik.
Immerhin kam das „Konzept Stadtguerilla“ nun zur Hauptsache – den Gründen ihres Kampfes gegen den Staat: „Wir behaupten, dass ohne revolutionäre Initiative, ohne die praktische revolutionäre Intervention der Avantgarde, der sozialistischen Arbeiter und Intellektuellen, ohne den konkreten antiimperialistischen Kampf es keinen Vereinheitlichungsprozess gibt, dass das Bündnis nur in gemeinsamen Kämpfen hergestellt wird oder nicht, in denen der bewusste Teil der Arbeiter und Intellektuellen nicht Regie zu führen, sondern voranzugehen hat.“
Das entscheidende Wort lautete „Avantgarde“. Schon Lenin, der Führer der Bolschewiki, hatte die Anhänger seiner Partei als „Avantgarde“ beschrieben. Genauso wollten Baader, Meinhof, Ensslin & Co. der Revolution und den sie angeblich tragenden Volksmassen „vorangehen“.
Das hatte den Vorteil, dass sie sich von der tatsächlichen Reaktion der Bevölkerung komplett abkoppeln konnten: Wenn (wie sich schon seit 1967/68 abzeichnete) jede Unterstützung bei Arbeitern und kleinen Angestellten ausblieb, dann lag das angeblich nicht an der falschen Analyse der „Avantgarde“, sondern am mangelnden Bewusstsein der „Massen“. Ein Zirkelschluss.
Trotzdem bot das Papier Anschlussfähiges für die meisten Spielarten von Linken: Die angeblichen Leistungen der Studentenbewegung wurden beschworen, der Freispruch des Ohnesorg-Mörders Karl-Heinz Kurras als Beispiel für „Klassenjustiz“ attackiert, der Vietnamkrieg kritisiert und natürlich die „Springer-Presse“ (zu der WELT damals gehörte und heute immer noch) beschimpft.
Offensichtlich sollte das „Konzept Stadtguerilla“ möglichst viele potenzielle Anhänger ansprechen, um der selbsternannten Avantgarde eine Basis zu verschaffen. Die Beleidigungen derselben Klientel waren dabei naturgemäß kontraproduktiv.
Gezeichnet war das Papier zum ersten Mal mit einer Selbstbezeichnung der Gruppe und einem Logo: „Rote Armee Fraktion“ und den Buchstaben „RAF“ auf oder unter einer Maschinenpistole, einmal in einem fünfzackigen Stern und einmal ohne. Dieser Name sollte die „Avantgarde“ in die weltweite revolutionäre Bewegung einordnen, eine fantasierte „Weltbürgerkriegs-Truppe“ – deshalb „Fraktion“. Mit den sowjetischen Streitkräften, die offiziell ohnehin schon seit 1946 nicht mehr „Rote Armee“ hießen, hatte die Bezeichnung nichts zu tun.
So missverständlich der selbstgewählte Name war, so peinlich war der Fehler, den der Gestalter des Logos gemacht hatte. Offenbar handelte es sich um einen jungen Bekannten von Ulrike Meinhof, die wohl auch die Hauptautorin des „Konzeptes Stadtguerilla“ war. Als Vorlage für die Waffe hatte er ein Foto der Heckler & Koch MPi-5 gewählt und nicht, wie vermutlich beabsichtigt, der Kalaschnikow AK-47. Dabei unterschied das vorwärts gekrümmte Magazin die sowjetische Waffe eindeutig von der deutschen.
Warum war das peinlich? Die MPi-5 wurde seit 1966 sukzessive bei den westdeutschen Sicherheitsbehörden als Standard eingeführt. Ausgerechnet eine Polizeiwaffe „schmückte“ also fortan fast alle Selbstbezichtigungsschreiben der RAF. Es wäre komisch, wenn nicht in den kommenden 22 Jahren mehr als 30 Menschen dem Amoklauf der deutschen Linksterroristen zum Opfer gefallen wären.
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Dieser Artikel wurde erstmals im Mai 2021 veröffentlicht.