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Deutscher Herbst 18. Oktober 1977

Wie Baader & Co sich zum Selbstmord verabreden

Nach der Befreiung der „Landshut“ begehen die in Stammheim inhaftierten RAF-Terroristen Selbstmord. Die Entführer von Hanns Martin Schleyer beschließen, sich ihrer Geisel durch Mord zu entledigen.
Leitender Redakteur Geschichte
Kombo RAF 18.10. Selbstmord Baader Kombo RAF 18.10. Selbstmord Baader
Die Leiche von Andreas Baader am Morgen des 18. Oktober 1977
Quelle: pa/ dpa; Archiv

Das eigene Leben kann eine Waffe sein. Man muss nur bereit sein, es nicht nur zu riskieren, sondern bewusst zu opfern. Auch nach 43 Tagen Geiselhaft von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer hatte die Bundesregierung die in Stuttgart-Stammheim inhaftierte Führung der RAF nicht freigelassen. Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) ließ sich nicht erpressen.

Ihre letzte Hoffnung, die Bundesrepublik zum Einlenken zu zwingen, hatten Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und die eher zufällig hier inhaftierte, eigentlich ziemlich unwichtige Terroristin Irmgard Möller auf die Entführung der Lufthansa-Boeing „Landshut“ gesetzt.

Lesen Sie auch von RAF-Kenner Stefan Aust:

Um 0.38 Uhr am 18. Oktober 1977 zerschlug sich diese letzte Hoffnung. Der Deutschlandfunk teilte seinen Hörern mit: „Die von Terroristen in einer Lufthansa-Boeing entführten 86 Geiseln sind alle glücklich befreit worden. Dies bestätigt ein Sprecher des Bundesinnenministeriums soeben in Bonn. Ein Spezialkommando des Bundesgrenzschutzes hatte um null Uhr die Aktion auf dem Flughafen von Mogadischu gestartet. Nach den ersten Informationen sollen drei Terroristen getötet worden sein.“

ARCHIV - Einige der befreiten Geiseln, zum Teil in Decken gehüllt, verlassen die am 18.10.1977 auf dem Frankfurter Rhein-Main Flughafen gelandete Lufthansa-Maschine "Köln". Die Lufthansa-Maschine "Landshut" mit über 80 Urlaubern an Bord war während ihres Rückflugs von Mallorca nach Frankfurt/Main über dem Mittelmeer von vier Terroristen entführt worden. Nach einer Odyssee über Rom, Zypern, Dubai und Aden wurden die Geiseln in Mogadischu/Somalia von der deutschen Eliteeinheit GSG 9 befreit. (zu dpa "Odyssee des Grauens - Die Entführung der «Landshut»" vom 11.10.2017) Foto: Heinz Wieseler/dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++ | Verwendung weltweit
Die in Mogadischou befreiten Geiseln aus der "Landshut" verlassen in Frankfurt die Lufthansa-Maschine, die sie umgehend nach Hause geflogen hat
Quelle: picture alliance / Heinz Wiesele

Kurz danach gab es wahrscheinlich eine Besprechung der vier Terroristen, die seit Erlass der Kontaktsperre am Abend des 5. September 1977 offiziell voneinander isoliert waren. Denn Jan-Carl Raspe, der Tüftler der ersten RAF-Generation, hatte das anstaltseigene Musiksystem in vier Zellen zur Gegensprechanlage umgerüstet.

Wer die treibende Kraft bei der Entscheidung zum kollektiven Selbstmord war, ist bis heute offen. Man kann aber annehmen, dass darüber wie über alle wirklich grundlegenden Fragen allein Andreas Baader entschied. Gudrun Ensslin, die ideologisch die RAF anführte, war dem charismatischen Macho völlig verfallen.

Jüngst aufgetauchte Indizien sollen darauf hinweisen, dass die Sicherheitsbehörden im siebten Stock des angeblichen Hochsicherheitsgefängnisses Stammheim Abhöranlagen auch in den Zellen der Gefangenen installiert hatten. Falls das stimmen sollte, würden eventuell noch vorhandene Protokolle der Morgenstunden des 18. Oktober 1977 gewiss belegen, wie genau es zum Dreifachsuizid kam – Irmgard Möller überlebte ihren Selbstmordversuch.

Der Selbstmord der RAF-Führung sollte dem linksextremen Terrorismus noch einen Nutzen bringen. Deshalb hatten zwei der vier Inhaftierten bewusst falsche Spuren gelegt.

Schon am 13. September 1977, acht Tage nach Schleyers Entführung, hatte Baader dem BKA-Beamten Alfred Klaus diktiert: „Die Bundesregierung hat nur die Wahl, die Gefangenen umzubringen oder sie irgendwann zu entlassen.“ Klaus, der „Familienbulle“ der RAF, wunderte sich darüber, denn er wusste: Die Behörden hatten keineswegs vor, die RAF-Gefangenen umzubringen. Sie wollten sie nur schlicht so lange wie überhaupt möglich hinter Gittern belassen.

ARCHIV - Die Bleistiftzeichnung eines Gerichtszeichners zeigt die Angeklagten (l-r) Jan-Carl Raspe, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof im Gerichtssaal (Archivfoto vom 05.06.1975). Mit der Verurteilung von drei Terroristen zu lebenslanger Haft ging vor mehr als 30 Jahren in Stuttgart-Stammheim der erste große Prozess gegen die Rote Armee Fraktion (RAF) zu Ende gegangen. Die Anklage gegen Verena Becker wegen Mittäterschaft bei der Erschießung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seinen beiden Begleitern am 7. April 1977 reißt alte Wunden auf. Foto: dpa (zu dpa 4273) +++(c) dpa - Bildfunk+++ | Verwendung weltweit
Die Terroristen Jan-Carl Raspe (v. l.), Andreas Baader und Gudrun Ensslin während ihres Prozesses in Stuttgart-Stammheim, der mit ihrer Verurteilung endet
Quelle: picture alliance / dpa

Am 7. Oktober 1977 hatte der inzwischen durch das lange Spiel auf Zeit der Bundesregierung enervierte Bandenchef an das Oberlandesgericht Stuttgart geschrieben: „Keiner von uns hat die Absicht, sich umzubringen. Sollten wir hier tot aufgefunden werden, sind wir in der guten Tradition justizieller und politischer Maßnahmen dieses Verfahrens ermordet worden.“ Ob ein Richter des zuständigen OLG-Senates diesen Brief las und für etwas anderes als plumpe Propaganda hielt, ist nicht überliefert.

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Noch weiter ging Ensslin am 17. Oktober 1977, auf dem Höhepunkt des Dramas der „Landshut“-Entführung. Gegen 15.40 Uhr sagte sie den beiden Anstaltspfarrern: „Auf meiner Zelle in einer Mappe mit der Aufschrift ‚Anwalt‘ befinden sich drei lose eingelegte Blätter, die dem Chef des Bundeskanzleramtes zugestellt werden sollen, wenn ich vernichtet oder hingerichtet sein werde.“ Doch die Papiere wurden nach ihrem Selbstmord nicht gefunden; sie haben wahrscheinlich nie existiert.

Dagegen waren die Suizidgedanken, die Jan-Carl Raspe am 6. Oktober 1977 geäußert hatte, vermutlich sogar ehrlich. Er war zwar auch ein linker Fanatiker, aber nicht so grenzenlos vom Hass zerfressen und von der eigenen Bedeutung überzeugt wie Baader und Ensslin.

Diese drei Gefangenen waren gut vorbereitet für ihren Suizid: Sie verfügten im 7. Stock über insgesamt drei Pistolen und sechs Sprengstoffstangen, versteckt in ihren Plattenspielern oder hinter den Fußleisten der Zellen.

Wann genau der Beschluss zum kollektiven Selbstmord fiel, könnten höchstens die Abhörprotokolle erweisen – falls sie denn jemals existiert haben und heute noch existieren sollten. Irgendwann zwischen 0.38 Uhr und 2.15 Uhr jedenfalls löste Andreas Baader aus dem Versteck im Plattenspieler seine Pistole, ein ungarisches Modell des Herstellers Fegyver.

Blick in die Zelle von Andreas Baader während der Besichtigung des Gefängnisses durch den parlamentarischen Untersuchungsausschuss des baden-württembergischen Landtags am 2.11.1977. Die Anwälte der am 18.10.1977 in ihren Zellen in Stuttgart-Stammheim tot aufgefundenen Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe hatten am 19. Oktober 1977 vor Vertretern der internationalen Presse in Bonn erhebliche Zweifel am Selbstmord ihrer Mandanten geäußert. Foto: Michael Dick +++(c) dpa - Report+++ | Verwendung weltweit
Blick in die Zelle von Andreas Baader am 2. November 1977
Quelle: picture-alliance/ dpa

Zuerst schoss er einmal in seine Matratze und einmal in die Zellenwand. Warum er das tat, ist offen: Sollten es falsche Spuren sein, um den Verdacht auf einen Kampf zu schüren? Dafür spricht, dass er die beiden Hülsen neben sich legte. Dann jedenfalls hockte Baader sich hin, nahm die Pistole mit dem Griff nach oben in die rechte Hand, setzte sie oberhalb seines Haaransatzes an den Hinterkopf und drückte ab. Die Kugel durchschlug seinen Schädel und trat an der Stirn wieder aus.

Gudrun Ensslin starb nach Berechnung der Gerichtsmediziner zwischen 1.15 und 1.25 Uhr. Sie hatte aus den Lautsprecherkabeln ihrer kleinen Musikanlage eine Schlinge geknüpft, mit der sie sich am engen Gitter ihres Zellenfensters aufhängte. Bevor sie von einem Stuhl in den Tod sprang, zog sie noch den Vorhang zu. Deshalb waren nur ihre Füße zu sehen, wenn man durch die geöffnete Zellentür schaute.

Blick in die Zelle von Gudrun Ensslin während der Besichtigung des Gefängnisses durch den parlamentarischen Untersuchungsausschuss des baden-württembergischen Landtags am 2.11.1977. Die Anwälte der am 18.10.1977 in ihren Zellen in Stuttgart-Stammheim tot aufgefundenen Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe hatten am 19. Oktober 1977 vor Vertretern der internationalen Presse in Bonn erhebliche Zweifel am Selbstmord ihrer Mandanten geäußert. Foto: Michael Dick +++(c) dpa - Report+++ | Verwendung weltweit
Die Zelle von Gudrun Ensslin
Quelle: picture-alliance/ dpa

Jan-Carl Raspe schoss sich irgendwann nach ein Uhr ein großkalibriges Geschoss aus einer Heckler & Koch in die rechte Schläfe. Er lebte noch, als Justizbeamte um 7.41 Uhr die Tür zu seiner Zelle öffneten, um ihm Frühstück zu bringen. Er war nicht mehr zu retten, sondern starb auf dem OP-Tisch im Stuttgarter Katharinenhospital um 9.40 Uhr.

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Im Gegensatz zu Irmgard Möller. Als die Justizvollzugsbeamten ihre Zelle wenige Minuten nach Raspes Haftraum öffneten, sahen sie die Terroristin zusammengekrümmt auf ihrer Matratze liegen, die Decke hochgezogen bis zum Kinn. Die Beamten stellten fest, dass sie vier Einstiche im Brustbereich hatte und heftig blutete. Rasch wurde auch Möller ins Krankenhaus gebracht und operiert. Unmittelbare Lebensgefahr bestand wohl nicht – die anderthalb bis zwei Zentimeter tiefen Stiche hatten ihr Herz nicht verletzt.

Der Wagen mit der Leiche des ermordeten Arbeitgeberpräsidenten. Hanns Martin Schleyer wurde am 19.10.1977 im Kofferraum eines Autos in der elsäßischen Stadt Mühlhausen ermordet aufgefunden. Am 5. September 1977 entführten Terroristen der Rote Armee Fraktion (RAF) den damaligen Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Drei Polizisten und der Fahrer starben bei der Geiselnahme. | Verwendung weltweit
Der Wagen mit der Leiche des ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer
Quelle: picture alliance / Rolf Haid

Um 8.58 Uhr an diesem Morgen meldete die Deutsche Presse-Agentur den Tod von Baader und Ensslin. Brigitte Mohnhaupt, nun die unumstrittene Chefin der RAF, die mit einer ganzen Gruppe von Gesinnungsgenossen vor dem Fahndungsdruck in Mitteleuropa nach Bagdad geflüchtet war, verkündete, dass es sich um Selbstmord gehandelt habe: „Sie haben ihre Situation bis zum letzten Augenblick selbst bestimmt“, sagte sie nach der Erinnerung des allerdings notorisch unzuverlässigen Zeugen Peter-Jürgen Boock.

Was sollte nun mit Hanns Martin Schleyer geschehen, der in Brüssel festgehaltenen Geisel? Die Bundesregierung würde nach der erfolgreichen Befreiung der „Landshut“-Passagiere nicht mehr nachgeben, das war offensichtlich. Sollte die RAF ihn weiter in ihrer Gewalt behalten? Oder sollte man ihn umbringen und die „Offensive 1977“ als gescheitert abhaken?

Der Logik einer Fanatikertruppe entsprechend setzten sich am Ende die Radikalen durch, vor allem wohl Brigitte Mohnhaupt, Sieglinde Hofmann und Peter-Jürgen Boock. Sie schickten den Bewachern in Brüssel über einen öffentlichen Fernschreiber eine Nachricht: „Wir müssen das Geschäft jetzt zum Abschluss bringen, die letzte Lieferung ist verdorben. Seht Ihr das auch so?“ Als Antwort kam ein knappes „Okay“ zurück. Das war das Todesurteil für Hanns Martin Schleyer. Er wurde erschossen, seine Leiche im Kofferraum eines grünen Audi auf einer Straße im französischen Mulhouse abgestellt. Der Deutsche Herbst war vorüber.

Die vollständige Serie zum Deutschen Herbst lesen Sie hier.

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