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  3. Bad Kleinen 1993: Die Rolle von „Monitor“ beim Skandal

Geschichte RAF-Fahndung

Welche Rolle spielte „Monitor“ beim Bad-Kleinen-Skandal?

Der „Spiegel“ bedauert die Fehlleistung seines Reporters Hans Leyendecker – der Terrorist Wolfgang Grams wurde 1993 in Bad Kleinen nicht „hingerichtet“. Jetzt muss die Verantwortung des WDR-Magazins „Monitor“ geklärt werden.
Leitender Redakteur Geschichte
Archivfoto / Bad Kleinen (Mecklenburg-Vorpommern):Auf dem Bahnhof von Bad Kleinen (Landkreis Wismar) suchen Beamte des Landeskriminalamtes (LKA) von Mecklenburg-Vorpommern am 02.07.1993 erneut den Tatort des Schußwechsels zwischen Polizei und den beiden mutmaßlichen RAF-Terroristen am 27.06.1993 ab. Es wurden noch drei weitere Patronenhülsen gefunden. (Sch03-020793) | Verwendung weltweit Archivfoto / Bad Kleinen (Mecklenburg-Vorpommern):Auf dem Bahnhof von Bad Kleinen (Landkreis Wismar) suchen Beamte des Landeskriminalamtes (LKA) von Mecklenburg-Vorpommern am 02.07.1993 erneut den Tatort des Schußwechsels zwischen Polizei und den beiden mutmaßlichen RAF-Terroristen am 27.06.1993 ab. Es wurden noch drei weitere Patronenhülsen gefunden. (Sch03-020793) | Verwendung weltweit
Tatortarbeit, wie sie nicht sein sollte: Schaulustige beobachten Polizeibeamte beim nachträglichen Sichern von Spuren auf Gleis 4 des Bahnhofes in Bad Kleinen
Quelle: picture-alliance / ZB

Der Skandal begann mit einer Vorabmeldung. Am Donnerstag, dem 1. Juli 1993, verbreitete das WDR-Magazin „Monitor“ über die Nachrichtenagenturen einen Verdacht: Beim Einsatz des Bundeskriminalamtes (BKA) und der Anti-Terror-Einheit GSG-9 am vorangegangenen Sonntag in Bad Kleinen sei der RAF-Terrorist Wolfgang Grams „am Tatort regelrecht hingerichtet“ worden. Das bestätige auch ein erster Obduktionsbefund.

In seiner Abmoderation nach der Ausstrahlung des „Monitor“-Beitrages am selben Abend fügte Moderator Klaus Bednarz in düsterem Tonfall hinzu: „Alles deutet auf Exekution. Ein ungeheuerlicher Vorgang, der in der Geschichte der Bundesrepublik – zumindest soweit bekannt – nicht seinesgleichen hat.“

ARCHIV - Der Fernsehjournalist und Moderator des ARD-Magazins «Monitor», Klaus Bednarz, aufgenommen am 19.02.1991 im Studio vor dem Logo seiner Sendung. Foto: Hans-Hermann Wöstmann/dpa (zu dpa-Korr «Ein Pullover mit Botschaft: «Monitor»-Moderator Klaus Bednarz» vom 15.04.2015) +++(c) dpa - Bildfunk+++ |
Klaus Bednarz 1991 im "Monitor"-Studio
Quelle: picture alliance / dpa

Heute ist längst bekannt, dass es sich bei dem „Verdacht“ um eine freie Erfindung gehandelt hat. Grams erschoss sich in gefühlt aussichtsloser Lage selbst. Genau das deutete auch der erste Obduktionsbefund vom 30. Juni 1993 an, auf den Bednarz hingewiesen hatte: Beim tödlichen Treffer handelte es um einen aufgesetzten Nahschuss. Das sprach für einen Suizid. Dagegen stützte dieser Bericht gerade nicht die behauptete „Hinrichtung“ – wie sollte das ein vorläufiges gerichtsmedizinisches Gutachten auch bestätigen können?

„Monitor“ verbreitete die Behauptung dennoch und löste damit eine Staatskrise aus. Der Bundesinnenminister trat zweieinhalb Tage später zurück; der Generalbundesanwalt Alexander von Stahl wurde am übernächsten Tag entlassen; gegen zwei am Einsatz beteiligte Polizeibeamte der GSG-9 ermittelten Staatsanwälte wegen des Verdachts einer vorsätzlichen Tötung.

19.06.2019, Nordrhein-Westfalen, Dortmund: Hans Leyendecker, Präsident des 37. Deutschen Evangelischen Kirchentages Dortmund, spricht bei der Eröffnungsveranstaltung des Kirchentags. Der 37. Evangelische Kirchentag dauert vom 19. bis zum 23. Juni. Foto: Bernd Thissen/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ | Verwendung weltweit
Hans Leyendecker räumt Fehler ein, nennt den ausgesprochen sachlichen Bericht der "Spiegel"-Kommission aber ein "„Pamphlet, das voller inhaltlicher und formaler Fehler ist“
Quelle: picture alliance/dpa

Immerhin hat jetzt die Relotius-Kommission des Magazins „Der Spiegel“, der am 3. Juli 1993 die „Monitor“-Geschichte aufgegriffen und anonyme Aussagen eines angeblichen Mitglieds des Einsatzteams präsentiert hatte, den damals beteiligten Redakteuren einen schweren „journalistischen Fehler“ attestiert.

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Der dafür verantwortliche „Spiegel“-Autor Hans Leyendecker bedauert heute zwar seine damalige Fehlleistung, will aber dennoch zur Aufklärung des Falles nicht beitragen – auf Anfrage teilte er WELT mit: „Die Bitte allerdings, einen Kontakt der Quelle mit der Kommission herzustellen, halte ich für Verrat am Journalismus.“ Erstaunlich, hatte ihn doch sein angeblicher Gewährsmann schlicht belogen. Andererseits gibt es Indizien, dass es sich in Wirklichkeit nur um einen anonymen Anrufer gehandelt haben könnte. Leyendecker erwägt inzwischen eine Klage gegen seinen früheren Arbeitgeber „Spiegel“ wegen des Berichtes der Kommission.

Fahndungsfoto der mutmaßlichen RAF-Terroristin Birgit Hogefeld (undatiert). Am 27. Juni 1993 kamen bei der Festnahme zweier mutmaßlicher RAF-Terroristen durch die Anti-Terror-Einheit GSG-9 auf dem Bahnhof der mecklenburgischen Stadt Bad Kleinen ein Polizeibeamter sowie einer der Gesuchten, Wolfgang Grams, unter bis heute ungeklärten Umständen ums Leben. Grams Begleiterin Birgit Hogefeld wurde verhaftet. | Verwendung weltweit
Fahndungsfoto der RAF-Terroristin Birgit Hogefeld
Quelle: picture-alliance / dpa

Der seinerzeit beim BKA für Terrorismusabwehr verantwortliche Rainer Hofmeyer sagt: „Für mich als damaligen Polizeiführer Bad Kleinen und alle beteiligten Kollegen ist es eine sehr späte Genugtuung, dass ,Der Spiegel‘ jetzt offiziell bestätigt, dass sein Bericht ,Der Todesschuss‘ über Bad Kleinen auf einer mangelhaft geprüften falschen Aussage eines anonymen Anrufers beruht.“

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Aber zugleich betont Hofmeyer, der nach dem Medienskandal innerhalb des BKA versetzt wurde, dass die Angelegenheit mit der Entschuldigung des heutigen „Spiegel“-Chefredakteurs Steffen Klusmann („Wir bedauern diesen Fehler“) keineswegs erledigt sei: „Nicht zu vergessen ist die ,Monitor‘-Sendung vom Donnerstag nach dem Zugriff, wo zuerst mit einer eidesstattlichen Erklärung behauptet wurde, zwei GSG-9-Beamte hätten den bereits am Boden liegenden Grams hingerichtet.“

Fahndungsfoto des getöteten Wolfgang Grams (undatiert). Am 27. Juni 1993 kamen bei der Festnahme zweier mutmaßlicher RAF-Terroristen durch die Anti-Terror-Einheit GSG-9 auf dem Bahnhof der mecklenburgischen Stadt Bad Kleinen ein Polizeibeamter sowie einer der Gesuchten, Wolfgang Grams, unter bis heute ungeklärten Umständen ums Leben. Grams Begleiterin Birgit Hogefeld wurde verhaftet. | Verwendung weltweit
Fahndungsfoto von Wolfgang Grams
Quelle: picture-alliance / dpa

Tatsächlich löste diese von „Monitor“-Chef Bednarz mit gramgebeugtem Blick verkündete Falschbehauptung den Skandal aus, die Leyendecker zwei Tage später mit dem angeblichen Augenzeugen zuspitzte. Bednarz hat sich öffentlich, soweit bekannt, niemals zu seinem Fehler bekannt; er starb 2015 nach schwerer Krankheit.

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Die Sachlage hat der RAF-Experte und Rechtsanwalt Butz Peters, gestützt vor allem auf die Urteile von gleich vier Gerichten, schon vor 14 Jahren aufgeklärt („Der letzte Mythos der RAF. Das Desaster von Bad Kleinen“. Ullstein Verlag 2006, 311 S., 18 Euro). Dass trotzdem erst jetzt wenigstens etwas Bewegung in die Angelegenheit kommt, liegt an der Enttarnung des Geschichtenerfinders Claas Relotius, der Ende 2018 aufgeflogen war.

Auf Anfrage teilte Georg Restle, heute als der zweite Nachfolger von Bednarz „Monitor“-Chef, WELT mit, man werde den „Spiegel“-Kommissionsbericht zum „Anlass“ nehmen, „uns mit der Sache zu befassen. Auch uns ist daran gelegen, hier Klarheit zu schaffen, soweit dies möglich ist.“ Wann mit einer abschließenden Bewertung zu rechnen sei, könne er aber noch nicht sagen. Da kein Mitglied der heutigen „Monitor“-Redaktion schon 1993 dort arbeitete, muss Restle diese Chance natürlich bekommen.

EV-Baron Bad Kleinen 1993 Archiv Kellerhoff_
Die eidesstattliche Versicherung von Joanna Baron, die zum Ausgangspunkt einer Staatskrise wurde
Quelle: Sammlung Kellerhoff

Die wesentlichen Fakten sind bereits bekannt: Die erfundene Story von der „Hinrichtung“ beruhte allein auf einer eidesstattlichen Erklärung der Kioskverkäuferin Joanna Baron. Sie hatte sich zum Zeitpunkt der Schüsse in ihrem Häuschen auf dem Bahnsteig 3/4 befunden, sich dort aus Angst versteckt und war erst mehr als eine Stunde nach der misslungenen Festnahme von der Polizei gefunden worden.

In dem von dem „Monitor“-Mitarbeiter Philip Siegel auf einer geliehenen Schreibmaschine getippten, auf den 30. Juni 1993 datierten und von Baron unterzeichneten Text heißt es (der Name des Terroristen war falsch geschrieben): „Ich sah dann einen Mann auf das Gleis am Bahnsteig 4 stürzen (...) Dann traten zwei Beamte an den reglos daliegende Grahms heran. Der eine Beamte bückte sich und schoss aus nächster Näher mehrmals auf den Grahms. Dabei sah der schon wie tot aus. Der Beamte zielte auf den Kopf und schoss.“

Die Augenzeugin der Anti-Terror-Aktion vor fünf Jahren, Joanna Baron (Mitte), zeigt dem Richter im Zivilprozeß Grams gegen die Bundesrepublik, Heinz Sonnenberger (links), sowie dem Anwalt der Familie Grams, Andreas Groß (r), am 14.08.1998 den Tatort im Bahnhof von Bad Kleinen, wo am 27. Juni 1993 bei der Anti-Terror-Aktion der GSG-9 der mutmaßliche RAF-Terrorist Wolfgang Grams unter bislang ungeklärten Umständen ums Leben kam. Die 1. Zivilkammer des Landgerichts Bonn ließ sich bei dem Ortstermin die Positionen der einzelnen Zeugen sowie die Abläufe bei der Polizeiaktion zeigen. (Sch01-140898) | Verwendung weltweit
Die Kioskverkäuferin Joanna Baron (Mitte) beim Ortstermin des Landgerichtes Bonn zum Fall Wolfgang Grams 1998
Quelle: picture-alliance / ZB

Als die vermeintliche Augenzeugin allerdings wenige Stunden nach den Ereignissen befragt worden war, hatte sie davon noch nichts gesagt. Dass ein GSG-9-Beamter aus der Nähe auf Grams‘ Kopf gezielt hat, findet sich in der vom „Monitor“-Reporter am 30. Juni maschinenschriftlich gefertigten Fassung der eidesstattlichen Erklärung; allerdings gab es laut Staatsanwaltschaft Schwerin eine erste Version, die „überarbeitet“ worden sei. Nach der „Monitor“-Veröffentlichung auf diesen Widerspruch angesprochen, redete sich Baron heraus: „Hier steht: ,Der Beamte zielte auf den Kopf und schoss.‘ Ich habe das nicht so gesehen. Ich habe nichts von Kopf gesagt. Das Wort ,Kopf‘ fiel nicht einmal aus meinem Mund.“

Sie entschuldigte sich: „Man muss tatsächlich alles doll durchlesen. Ich habe zu schnell unterschrieben.“ Obwohl oben auf der Erklärung „zur Vorlage bei Gericht“ stand, habe sie „gedacht, das ist nur fürs Fernsehen und Information für die Leute“. Sie habe nicht gewusst, dass „ich das so genau schildern musste“. Hinterher habe sie sich selbst geärgert, „weil ich selbst gemerkt habe, dass da etwas nicht stimmt“. Welche Rolle das Honorar spielte, das „Monitor“ ihr gezahlt haben soll (je nach Quelle 150 oder 250 DM) blieb offen.

Justizbeamte führen am Dienstag (5.11.1996) Birgit Hogefeld in den Gerichtssaal in Frankfurt. Unmittelbar vor der für Dienstag vormittag geplanten Urteilsverkündung gegen das mutmaßliche RAF-Mitglied Birgit Hogefeld geht der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts in Frankfurt auf Antrag der Verteidigung erneut in die Beweisaufnahme. Grund ist das mögliche Auftauchen des als Herrhausen-Attentäters gesuchten Christoph Seidler. dpa COLORplus |
Birgit Hogefeld bei ihrem Prozess 1996 in Frankfurt / Main
Quelle: picture-alliance / dpa

„Monitor“-Mitarbeiter Siegel dagegen beteuerte gegenüber RAF-Experte Peters, er habe Barons Worte genau aufgeschrieben. So stand damals und steht bis heute Aussage gegen Aussage – keine Chance zur Aufklärung. Klar ist aber auch, dass man nach den Maßstäben der journalistischen Sorgfaltspflicht so eine Skandalgeschichte niemals allein auf die vagen Erzählungen einer einzigen offenkundig völlig überforderten Zeugin stützen kann. Denn der von Bednarz zusätzlich angeführte vorläufige Obduktionsbefund bestätigte ja eben nicht, was der damalige „Monitor“-Chef hineinlas.

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Die eidesstattliche Erklärung von Baron sei „fragwürdig“, betont auch Ex-BKA-Mitarbeiter Hofmeyer: „Die Staatsanwaltschaft Schwerin schreibt in ihrem Schlussbericht, der ,Monitor‘-Reporter Siegel habe sie ,zusammengereimt‘.“

Eindeutig ist, dass die Behauptung von der angeblichen „Hinrichtung“ völlig falsch war – ganz gleich, wer sie nun erfunden hat. Die misslungene Festnahme in Bad Kleinen war ein Desaster für BKA und GSG-9. Aber erst Medien machten daraus einen Skandal.

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