Der Fahndungserfolg beruhte auf Glück. Oder, aus Sicht der Festgenommenen, auf einem Missgeschick. In der Wohnung im zweiten Stock des Hauses Berger Straße 344 im Frankfurter Stadtteil Bornheim hörte der Mieter, ein 60-jähriger Handwerksmeister, bald nach 20 Uhr am 2. Juli 1984 einen Knall. Er wunderte sich – doch nicht allzu sehr, denn gleich darauf wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der „Tagesschau“ zu.
Doch gegen 20.30 Uhr klingelte es an seiner Wohnungstür. Eine schmächtige Frau stand vor ihm und bat um Entschuldigung: Sie kümmere sich gerade um die Wohnung über ihm, die Hauptmieterin sei in den USA. Nun habe deren Katze das Aquarium vom Schrank gestoßen; es könne deshalb sein, dass bei ihm bald Wasser durch die Zimmerdecke sickern werde. Dem Mann genügte das zunächst als Erklärung.
Aber doch nicht ganz. So schaute er nach und sah zwar keinen Wasserfleck an der Decke, aber ein kleines Loch. Und im Linoleum des Fußbodens steckte ein deformiertes Geschoss. Der Handwerksmeister rief, anderthalb Stunden nach dem Knall, die Polizei.
Zuerst kamen zwei Beamte mit einem Streifenwagen, den sie vor dem Haus parkten. Sie sahen sich die Kugel an und das Loch in der Decke – dann riefen sie Verstärkung. Zusammen mit sechs weiteren Polizisten schlichen sie in den dritten Stock hoch, alle mit schusssicheren Westen. Der Handwerksmeister berichtete: „Dann hörte ich, wie einer ,Polizei! Aufmachen!‘ rief und die Wohnungstürscheibe einschlug.“
Sie stießen auf drei Frauen und drei Männer, die sich widerstandslos festnehmen ließen. Offenbar hatte sich beim Reinigen einer Waffe unbeabsichtigt ein Schuss gelöst, der den Fußboden durchschlagen hatte und in der tiefer gelegenen Wohnung gelandet war.
Gleich vier der Verdächtigen fanden sich bei den obersten sechs auf dem aktuellen Fahndungsplakat der RAF: Helmut Pohl, Ingrid Jakobsmeier, Christa Eckes sowie Stefan Frey. Dazu zwei weitere, die bis dahin nicht im Fokus der Ermittlungen gestanden hatten: Barbara Ernst und Ernst Volker Staub.
Außerdem fanden die Beamten sechs Schusswaffen mit Munition, eine Handgranate und zahlreiche gefälschte Ausweise. Noch wichtiger: Mehrere tausend Blatt Papier, darunter Notizen über US- und Nato-Einrichtungen sowie Listen mit den Namen führender Männer der deutschen Wirtschaft. Ohne Zweifel war ein Schlag gegen das aktuelle Hauptquartier der RAF gelungen.
Staub, Ende Oktober 1954 geboren, hatte nach dem Abitur 1974 zu studieren begonnen, wurde jedoch nach dem 13. Semester 1982 exmatrikuliert – er hatte sich nicht zurückgemeldet. Irgendeine ordentliche Tätigkeit Staubs wurde nicht aktenkundig, aber ebenso wenig, dass er von Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe gelebt hätte: Die Behörden hatten ihn nicht auf dem Schirm.
Spätestens im Sommer 1983, also ein halbes Jahr nach der Zerschlagung der dritten „zweiten Generation“ mit der Festnahme unter anderem von Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar, tauchte Staub ab. In Bremen organisierte er eine konspirative Wohnung. Die bisherige Mieterin trat in West-Berlin eine neue Stelle an, wollte aber nicht gleich ihr Zuhause in der Hansestadt aufgeben.
Das passte perfekt zum Prinzip der Terrorgruppe, sich konspirative Wohnungen zu „organisieren“, die WELT 1984 so beschrieb: „RAF-Führer gaben die Weisung aus, zeitlich befristet in existierende Mietverträge einzusteigen. Dabei dachten sie vor allem an Studenten, die während der Semesterferien oder bei Studienaufenthalten im Ausland längere Zeit abwesend waren.“
Also bot Staub unter dem Falschnamen „Peter Bollmann“ an, die einschließlich Nebenkosten im Monat 732 Mark teure Wohnung zu übernehmen – wenn denn die Hauptmieterin angemeldet blieb. Sie dachte sich dabei nichts und stimmte zu. Fortan zahlte der Untermieter zuverlässig die Summe an die Hauptmieterin – per Postanweisung, also ohne Bankverbindung. Im Frühjahr 1984 löste die Hauptmieterin das Untermietverhältnis, weil eine Freundin die Wohnung übernehmen wollte; ihr fiel „Bollmann“ bei der Übergabe unangenehm auf.
Auch die Hauptmieterin der Berger Straße 344 war abwesend, nämlich in die USA gefahren, und hatte ihre Wohnung untervermietet. Nach Zeugenaussagen benutzte die RAF-Führung das Quartier seit Ende Juni 1984. Es fand sich sehr viel Material, darunter Unterlagen, die zweifelsfrei Staub und Barbara Ernst zugeordnet werden konnten. Sie enthielten Informationen, die offensichtlich durch das Ausspähen einer US-Kaserne in Bad Tölz und der dazu gehörenden Siedlung entstanden waren, einschließlich Lageplänen und Fotos.
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Beide wurden wegen der regionalen Zuständigkeit der Justiz nicht in Frankfurt, sondern in München angeklagt und Anfang Februar 1986 zu jeweils vier Jahren Haft wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Für die Zeit nach der Haft ordnete das Bayerische Oberste Landesgericht außerdem Führungsaufsicht an.
Eine gute Idee, die aber zu keinem Ergebnis führte. Staub wurde nach genau vier Jahren hinter Gittern entlassen und zog im Juli 1988 nach Hamburg; bis Februar 1990 meldete er sich tatsächlich alle zwei Monate bei der Polizei. Parallel damit stand er offenbar in Kontakt mit der RAF-Zelle in Wiesbaden um Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld, die nun die Spitze der „Kommandoebene“ bildeten. Staub wohnte im Stadtteil St. Pauli und hielt sich regelmäßig in den besetzten Häusern in der Hafenstraße auf.
Zum letzten Mal eine Spur von ihm in der Legalität gab es im März 1990, als er den am 2. Juli 1984 mit ihm verhafteten Helmut Pohl im Gefängnis besuchte, der zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt war. Dann verschwand er. Im November 1990 nannte der Chef des Hamburger Landesamtes für Verfassungsschutz den Gesuchten namentlich: „Es handelt sich um Ernst Volker Staub, der im März abgetaucht ist und bis dahin dem legalen RAF-Bereich in Hamburg angehörte.“
Offenbar fanden sich Spuren von Staub beim Bombenanschlag auf das neu errichtete Gefängnis Weiterstadt. Immer wieder zu lesende Spekulationen, auch bei dem weitgehend misslungenen Polizeieinsatz in Bad Kleinen 1993 sei Staub (zusammen mit Daniela Klette) vor Ort gewesen, wurden dagegen von Bundesanwaltschaft und BKA wiederholt dementiert.
Vielleicht stammte sogar die Auflösungserklärung der RAF von 1998 zumindest in Teilen von Staub, doch mit Gewissheit kann man das nicht beurteilen, denn Stilanalysen liefern keine belastbaren Erkenntnisse. Außerdem veröffentlichte diese Angaben der Journalist Hans Leydendecker, dessen Unzuverlässigkeit zumindest in Sachen Rote Armee Fraktion inzwischen allgemein bekannt und am Beispiel Bad Kleinen sogar von seinem ehemaligen Arbeitgeber, dem Hamburger Magazin „Der Spiegel“, dokumentiert ist.
Wann die kriminelle Karriere von Ernst-Volker Staub beendet sein wird, kann gegenwärtig niemand sagen. Ebenso wenig, ob der ersten Festnahme 1984 vier Jahrzehnte später eine zweite folgt. Manchmal hilft Kommissar Zufall den Ermittler.