Für den Hauptangeklagten war der Prozess das Beste, was ihm passieren konnte. Am 26. Februar 1924 begann in München das Strafverfahren gegen Adolf Hitler und acht Mitangeklagte wegen ihres Putschversuches. Der war zwar am 9. November 1923 auf desaströse, ja peinliche Weise gescheitert – doch das juristische Nachspiel drehte die Niederlage faktisch in einen Erfolg.
Seit Inkrafttreten der Reichsverfassung von 1919, spätestens aber seit dem Gesetz zum Schutz der Republik 1922 lag die juristische Zuständigkeit für Verfahren wegen Hochverrats in Deutschland bei der Reichsjustiz – zunächst beim Reichsgericht Leipzig, dann beim eigens eingerichteten Staatsgerichtshof.
Der Freistaat Bayern jedoch hatte dieses Gesetz nicht akzeptiert und stattdessen eine eigene „Verordnung zum Schutze der Verfassung der Republik“ erlassen, die eine abweichende Zuständigkeit festlegte: Solche Anklagen sollten vor bayerischen Volksgerichten verhandelt werden.
Wo also sollten Adolf Hitler und die anderen festgenommenen Putschisten zur Verantwortung gezogen werden? Schon am 13. November 1923 hatte sich Bayerns Ministerpräsident festgelegt: Eugen von Knilling erklärte es für „absolut unmöglich, dass der Staatsgerichtshof über die Hitlersache“ urteile. Auch der Kompromissvorschlag, das nun einmal zuständige Gericht statt in Leipzig in einer bayerischen Stadt verhandeln zu lassen, sei „unmöglich“.
Es dürfe „keinerlei Versuch eines gerichtlichen Verfahrens von Reichs wegen gegen Hitler und seine Mitverschwörer unternommen“ werden. Dabei ging es dem Ministerpräsidenten gar nicht um das Strafmaß, denn er ging davon aus, dass Hitler zum Tode verurteilt würde und der ehemalige Münchner Polizeipräsident Ernst Pöhner als wesentlicher Mitverschwörer zu einer längeren oder sogar lebenslangen Freiheitsstrafe.
Allerdings fürchtete Knilling ein Aufflammen der völkischen Bewegung. Es sei „ganz unmöglich, diese Leute an einen politischen Gerichtshof, der zum Teil mit Sozialdemokraten besetzt sei, auszuliefern“. Wenn er das zulasse, fürchtete Knilling, könne er nicht mehr in seiner Wohnung schlafen, sondern müsse sich fortan „in einer Kaserne verschanzen“.
Bayern blieb bei seiner Haltung, im Reichskabinett hingegen gab es Meinungsverschiedenheiten. Doch weil die Regierung von Reichskanzler Gustav Stresemann nur zwei Tage später zurücktrat, wurde dieser Konflikt nicht mehr ausgetragen. Das neue Kabinett von Reichskanzler Wilhelm Marx, einem Zentrumspolitiker, legte keinen Widerspruch gegen ein Verfahren vor dem Münchner Volksgericht ein. Bayern war am Zug.
Erstaunlicherweise bedauerte Hitler diese Entscheidung zunächst. Zumindest sagte er das in einem Gespräch mit Staatsanwalt Hans Ehard am 13. Dezember 1923 – eine förmliche Vernehmung hatte der Untersuchungsgefangene ausdrücklich verweigert. Grundsätzlich sei er zwar ein „Gegner“ des Staatsgerichtshofs zum Schutze der Republik. „In meinem jetzt gegebenen Falle aber halte ich das Volksgericht zur Aburteilung für ungeeignet, für befangen und für vollkommen unobjektiv“, sagte Hitler zu Ehards Überraschung.
Offensichtlich wusste der künftige Hauptangeklagte schon, wie er den Prozess nutzen wollte: als Bühne für den größten Auftritt seines bisherigen Lebens. Da erschien ein nationales Gericht besser geeignet als die bayerische Variante.
Die Untersuchungen der bayerischen Justiz wegen der Ereignisse am 8. und 9. November 1923 waren sachlich und rechtsstaatlich sauber: Hunderte Zeugen wurden vernommen, die sichergestellten Dokumente gewissenhaft ausgewertet.
Am 26. Februar 1924, einem Dienstag, begann der Prozess wegen Hochverrats gegen Hitler, Pöhner, den General a. D. Erich Ludendorff sowie sieben weitere Angeklagte. Verhandlungsort war ausgerechnet der vormalige Sitz der Infanterieschule an der Blutenburgstraße, deren Lehrgangsteilnehmer mehrheitlich am Putsch mitgewirkt hatten. Deshalb war die Institution strafweise aus München weg verlegt worden, sodass der Komplex leer stand. Einheiten der Reichswehr und der Landespolizei sperrten die Umgebung weiträumig ab, denn man befürchtete Übergriffe von Hitler-Anhängern.
Von Beginn an dominierte der Hauptangeklagte mit teilweise schier endlosen Reden, aber auch Befragungen von Zeugen das Verfahren. Hitler stilisierte sich in seinen Auftritten zum Retter Deutschlands. Viele Zeitungen referierten seine Ausführungen und machten ihn so zu einem der bekanntesten Politiker Deutschlands: zwar gescheitert, aber vermeintlich ein Ehrenmann.
So jedenfalls sahen es viele Sympathisanten. In rückblickend verfassten Berichten schilderten viele von ihnen, wie sie der „Prozess gegen die angeblichen Meuterer des 9. November 1923“ beeindruckt habe. Und dass sie das „mannhafte Verhalten Hitlers in den darauffolgenden Gerichtsverhandlungen“ bewundert hätten.
Diese Instrumentalisierung des Verfahrens gelang so gut, weil der Vorsitzende Richter Georg Neithardt faktisch als Unterstützer Hitlers im Gericht auftrat. Er ließ dem Hauptangeklagten nicht nur reichlich Raum für seine Tiraden, sondern stellte seine Fragen an Beschuldigte wie an Zeugen oft derartig suggestiv, dass sich fast zwangsläufig eine Entlastung der Angeklagten ergab.
Zwar protestierten die Vertreter der Anklage gegen Neithardts Verhalten, doch der selbstbewusste Jurist verschanzte sich hinter der richterlichen Unabhängigkeit. „Die Leitung des Prozesses war so schlapp und unbefriedigend, dass der Staatsanwalt sein Amt niederlegte“, notierte der Reichswehr-General Friedrich Kress von Kressenstein, der einen wesentlichen Anteil an der Niederschlagung des Putsches gehabt hatte.
Allerdings vertraten auch mehrere der Verteidiger ihre Mandanten höchst geschickt – wie ebenfalls Kress feststellen musste. Es gelang ihm, sich selbst auf die Zeugenliste setzen zu lassen, um für die Reichswehr aufzutreten. Doch in der Vernehmung wurde der General vorgeführt und musste sich herausreden: „Ich verweigere eine Auskunft darüber. Ich halte die Frage nicht zum Prozess gehörig. Ich bin von meinem Diensteid nur für den Prozess entbunden.“ Kein starkes Bild.
So glich der Prozess mehr „einer völkischen Agitationsversammlung“ als einem Strafverfahren, urteilte der regierungsnahe „Bayerische Kurier“. Die Angeklagten würden vom Richter nicht wirklich zur Sache vernommen; stattdessen überließ er die eigentliche Leitung des Verfahrens „ganz oft“ den Verteidigern oder sogar Hitler selbst. Schlimmer noch: Zeugen, die den Staat vertraten, waren „schutzlos allen möglichen Schmähungen ausgesetzt“.