Radikalität macht attraktiv. Wer für schwierige Probleme einfache Lösungen verspricht, findet mehr Anklang als Konkurrenten, die abwägen, komplizierte Verfahren ankündigen oder unterschiedliche Interessen berücksichtigen wollen. Was Adolf Hitler Anfang der 1920er-Jahre von seinen Konkurrenten im völkisch-nationalistischen Spektrum der bayerischen Politik unterschied, war vor allem seine schier unbegrenzte Bereitschaft zur Rücksichtslosigkeit.
Schon bei der Versammlung der vaterländisch gesinnten Verbände auf dem Münchner Königsplatz am 16. August 1922, als die NSDAP-Anhänger vielleicht ein Prozent der Zuhörer ausgemachten, hatte er mit seiner hemmungslosen Rhetorik die Wahrnehmung dominiert. Ähnliches war ihm beim „Deutschen Tag“ in Coburg Mitte Oktober 1922 und beim ersten Reichsparteitag der NSDAP Ende Januar 1923 gelungen.
Am 1. und 2. September 1923 stand die nächste Gelegenheit an, diesmal in Nürnberg. Zum schon vierten „Deutschen Tag“ der völkischen Nationalisten kamen rund 100.000 Teilnehmer, um ihre Stärke zu demonstrieren: Durch eine Art Heerschau wollten sie potenzielle Unterstützer gewinnen und mutmaßliche Gegner einschüchtern. Wieder machten Mitglieder von NSDAP und SA nur den deutlich kleineren Teil der Anwesenden aus, doch wieder gelang es Hitler, besonders viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Vergeblich hatte Nürnbergs liberaler Oberbürgermeister Hermann Luppe versucht, die Aufmärsche zu begrenzen und zumindest aus der Innenstadt herauszuhalten. Doch er scheiterte an der offenen Unterstützung, die seine eigene kommunale Polizei und ihr Chef den Völkischen gewährten.
In seinem offiziellen Bericht lobte der Polizeidirektor Heinrich Gareis später den „glanzvollen Begrüßungsabend“ und die „Begeisterung, wie sie Nürnberg seit 1914 nicht mehr erlebt“ habe. Dabei war Gareis nicht einmal selbst Nationalsozialist, sondern „nur“ ein Vertreter des rechten Flügels der Deutschnationalen.
Über den Marsch durch die Innenstadt hielt der Polizeichef fest: „Die Straßenzüge waren in ein Meer von schwarz-weiß-roten und weiß-blauen Fahnen gehüllt. Brausende Heilrufe der Straßen, Gehsteige und Fenster in dicht gedrängten Massen füllenden Bevölkerung umtosten Ehrengäste und Zug. Zahllose Arme streckten sich ihm mit wehenden Tüchern entgegen. Ein Regen von Blumen und Kränzen schüttete sich von allen Seiten über ihn. Es war wie ein freudiger Aufschrei hunderttausender Verzagter, Verschüchterter, Getretener, Verzweifelter, denen sich ein Hoffnungsstrahl auf Befreiung aus Knechtschaft und Not offenbarte.“
Angesichts so eindeutig verteilter Sympathien bei der für Sicherheit zuständigen Behörde trat die Arbeiterbewegung, in der fränkischen Industriestadt traditionell stark, lieber nicht auf. „Nürnberg galt immer als eine ,rote’ Stadt. Aber angesichts der erdrückenden Fülle von Hakenkreuzlern verhielten sich die ,Roten’ still“, notierte der Journalist Hans von Hülsen, der den „Deutschen Tag“ als Korrespondent für ausländische Zeitungen verfolgte.
„Nachts gab es ein paar Prügeleien, wie das in Bayern so ist“, ergänzte Hülsen: „Am nächsten Morgen sah man etliche verbundene Köpfe, doch Ernstliches geschah nicht. Die Arbeiter blieben unsichtbar, das Straßenbild wurde völlig vom Hakenkreuz, der feldgrauen Kappe und den schwarz-weiß-roten Fahnen beherrscht. Wäre in dieses Pulverfass ein Funke gefallen, es hätte ein Blutbad sondergleichen gegeben.“
Hitler tat viel, um genau diesen Funken zu schlagen. Am 2. September nachmittags hielt er eine Ansprache in der Nürnberger Festhalle und abends drei Reden nacheinander, die wie bei seinen in München bereits regelmäßigen Serienauftritten üblich alle ähnlichen Inhalts waren. Sogar die „New York Times“ registrierte die wesentlichen Aussagen seiner „Brandstifter-Rede“ und zitierte: „Wir müssen eine neue Diktatur bekommen! Wir brauchen kein Parlament, keine Regierung wie die gegenwärtige. Wir können Deutschlands Rettung von der gegenwärtigen Koalition nicht erwarten, sondern ausschließlich durch eine Diktatur.“
Ganz ähnlich ordnete die liberale „Frankfurter Zeitung“ den Auftritt ein, obwohl ihr Berichterstatter offenbar nur eine der vier Reden Hitlers mitbekommen hatte, die er allerdings „blutrünstig“ nannte: „Da donnerte er, dass – wie die äußeren Zustände, so auch die inneren – nur mit Gewalt geändert werden könnten. Vor den schwersten Blutopfern dürfe man nicht zurückschrecken. Wer diese Politik nicht mitmachen wolle, der müsse mit Gewalt niedergeschlagen werden.“
Am Rande des „Deutschen Tages“ benannte sich die im Frühjahr 1923 in München gegründete „Arbeitsgemeinschaft der Vaterländischen Kampfverbände“ um. Der neue Name „Deutscher Kampfbund“ betonte ihren Führungsanspruch im völkischen Milieu; treibende Kraft war nicht Hitler, sondern der Ex-General Erich Ludendorff, der eine eigene, ihm verpflichtete Massenbasis etablieren wollte.
Die militärische Leitung des „Kampfbundes“ übernahm der ehemalige Hauptmann Hermann Kriebel, zuvor in identischer Stellung bei der „Arbeitsgemeinschaft“ tätig. Als Geschäftsführer setzte Hitler seinen Vertrauten Max Erwin von Scheubner-Richter durch; die Position des politischen Leiters blieb vorerst unbesetzt.
Nach dem Ende der Veranstaltung wurde die Heerschau der Völkischen doch noch blutig: Bei Zusammenstößen in einem Arbeiterviertel kam es zu einer Schießerei, bei der ein 50-jähriger Sozialdemokrat, Vater von fünf Kindern, getötet und ein weiterer schwer verletzt wurden. Das SPD-Blatt „Vorwärts“ berichtete: „Die Polizei verhielt sich völlig passiv.“ Anschließend griffen linke Arbeiter in einigen Nürnberger Fabriken bekannte Teilnehmer des „Deutschen Tages“ an. Die Stimmung wurde immer explosiver, Eskalation lag in der Luft.
Wie viele Veranstaltungen unter Beteiligung der NSDAP 1922/23, umwaberten auch das Treffen in Nürnberg Putschgerüchte. Diesmal war die Rede davon, dass aus der Heerschau im Nordosten Bayerns ein Marsch ins benachbarte, von der SPD unter Duldung der KPD regierte Thüringen werden könnte. Die Möglichkeit galt immerhin als so wahrscheinlich, dass Bayerns Reichswehr-Kommandeur General Otto von Lossow offiziell über die Möglichkeit eines „Putsches der Rechtsradikalen“ informiert und ersucht wurde, während eines Manövers „auf ein telegrafisch oder telefonisch übermitteltes Stichwort unverzüglich nach München zu kommen“.
Tatsächlich hatten weder Hitler noch Ludendorff, auch Kriebel oder Scheubner-Richter irgendwelche Pläne, von Nürnberg aus nach Thüringen ein- oder gar bis zur Reichshauptstadt durchzumarschieren. Dafür hatten die Anführer des „Kampfbundes“ die 100.000 Teilnehmer des „Deutschen Tages“ denn doch zu wenig im Griff. Der Triumph in Nürnberg allerdings sorgte dafür, dass er sich noch stärker fühlte als bisher. Zweieinviertel Monate später hatte das Folgen – am 8. November 1923 im Münchner Bürgerbräukeller.
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Dieser Artikel wurde erstmals im September 2023 veröffentlicht.