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  3. „Judenzählung“ 1916: Diese Statistik trieb den Rassenwahn an

Geschichte „Judenzählung“

Diese Statistik trieb den Rassenwahn an

Am 26. Juli 1920 musste der Reichswehrminister offiziell einräumen, dass es Ende 1916 eine „Judenzählung“ im Heer gegeben hatte. Die Ergebnisse wollte Otto Geßler weiter geheim halten – denn sie widerlegten die antisemitische Intention.
Leitender Redakteur Geschichte
Deutsche Juden im WKI Flugblatt des RjF Deutsche Juden im WKI Flugblatt des RjF
Flugblatt des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten gegen die Hetze von Antisemiten
Quelle: Wikimedia /Public Domain

Der Minister fühlte sich offenbar unwohl. Vier Monate hatte der Liberale Otto Geßler mit seiner Antwort gewartet. Immerhin: Im Gegensatz zu Gustav Noske (SPD), seinem Vorgänger im Amt als Reichswehrminister, ging der DDP-Politiker in seinem Brief an den Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) am 26. Juli 1920 auf die Fragen ein, die ihm gestellt worden waren. Noske hatte es am 29. Januar 1920 noch bei der Bemerkung belassen, „dem Antrag auf Einsichtnahme in die Akten kann aus grundsätzlichen Erwägungen nicht entsprochen werden“.

Geßler kam dagegen zum Punkt: „Das gesamte, auf die im Jahre 1916 angeordnete Statistik sich beziehende Material befindet sich vollständig beim Reichsministerium; es wird im Geheimfach aufbewahrt.“ Damit bestätigte erstmals ein Mitglied der Reichsregierung offiziell ein offenes Geheimnis: Es hatte mitten im Weltkrieg eine „Judenzählung“ im preußisch-deutschen Heer gegeben.

Otto Geßler
Reichswehrminister Otto Geßler, aufgenommen 1923
Quelle: Bundesarchiv

Zu den genauen Ergebnissen allerdings äußerte sich Geßler nicht, sondern behauptete etwas weiter unten in seinem Schreiben, einige 1919 in einer antisemitischen Broschüre veröffentlichten Zahlen seien „richtig“. Allerdings wurde dem CV der Zugang zu dem Ausgangsmaterial der Zählung verweigert, um diese Aussage zu überprüfen.

Es ging um ein brisantes Thema in der jungen deutschen Demokratie – um die Frage, ob das Heer, das kaiserliche im Weltkrieg und ebenso das offiziell republikanische im neuen Staat, antisemitisch eingestellt sei. Genauer natürlich: In welchem Maße es vom Rassenhass durchdrungen war. Und mit dem Heer natürlich die gesamte Gesellschaft.

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Zu den seit 1914 am weitesten verbreiteten antisemitischen Behauptungen gehörte, die „Angehörigen des auserwählten Volkes“ (wie es bewusst abwertend hieß) hätten sich vor dem Frontdienst gedrückt. Weil diese und ähnliche Behauptungen immer lauter erhoben wurden, hatte der preußische Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn am 11. Oktober 1916 zum Stichtag 1. November eine „Judenzählung“ angesetzt.

Adolf Wild von Hohenborn
Preußens kurzeitiger Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn
Quelle: Wikimedia / Public Domain

In seinem Erlass hieß es: „Fortgesetzt laufen beim Kriegsministerium aus der Bevölkerung Klagen darüber ein, dass eine unverhältnismäßige Anzahl wehrpflichtiger Angehöriger des israelitischen Glaubens vom Heeresdienst befreit sei oder sich vor diesem unter allen nur möglichen Vorwänden drücke. Auch soll es nach diesen Mitteilungen eine große Zahl im Heeresdienst stehender Juden verstanden haben, eine Verwendung außerhalb der vordersten Front, also in dem Etappen- und Heimatgebiet und in Beamten- und Schreiberstellen zu finden.“

Um diesen schwerwiegenden Anschuldigungen nachzugehen, sollten alle Truppenteile zwei Fragebögen ausfüllen und bis zum 1. Dezember 1916 an das Kriegsministerium zurückschicken. Im ersten wurde nach der Anzahl der Juden unter den Wehrpflichtigen, im zweiten nach Zurückstellungen, Ausmusterungen und Verlegung von Juden in die Etappe gefragt.

Es gab keinerlei Anleitung, wie genau die Erhebung durchgeführt werden sollte; Namen mussten nicht genannt werden. So wurden die Rohdaten uneinheitlich und oft schlampig erhoben; Anfang der 1920er-Jahre kam zudem heraus, dass antisemitisch eingestellte Offiziere sogar jüdische Frontsoldaten für den Zeitraum der Erhebung in die Etappe versetzten, um sie dort zählen zu können. Dennoch entsprach das Ergebnis den Erwartungen der Initiatoren nicht; es blieb unter Verschluss.

Der Anteil des Judentums am Zusammenbruche Deutschlands_
Titelseite der antisemitischen Broschüre "Der Anteil des Judentums am Zusammenbruche Deutschlands"
Quelle: Archiv Kellerhoff

Gerade diese Geheimhaltung heizte Spekulationen an. Bald hieß es, jeder neunte Soldat in der Etappe sei ein Jude gewesen, in den Schützengräben dagegen wäre unter jeweils 180 Männern nur einer jüdischen Glaubens gewesen. Bei einem durchschnittlichen Anteil von Juden an der deutschen Gesamtbevölkerung von einem Prozent hätte das, wenn es denn zutreffend gewesen wäre, bedeutet: Die Hälfte der deutschen Juden hätte sich vor dem Frontdienst gedrückt, während sie in der relativ ungefährlichen Etappe zehnfach überrepräsentiert gewesen wären.

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In Wirklichkeit allerdings hatte die „Judenzählung“ völlig andere Ergebnisse erbracht, wie die schließlich doch erlaubte Nachprüfung der Rohdaten durch Statistiker im Auftrag des CV ergab. Tatsächlich waren jüdische deutsche Männer sogar zu einem etwas größeren Prozentsatz eingezogen worden als christliche Deutsche, und an der Front kämpfte annähernd derselbe Anteil; die geringen Unterschiede erklärten sich durch das etwas höhere Durchschnittsalter der Juden und ihre entsprechend bessere Ausbildung. Eine nennenswert über dem statistisch zu erwartenden Wert liegende Verwendung in der Etappe konnte hingegen nicht festgestellt werden.

Auszug aus Segall-die-deutschen-juden_
Auszug aus der Broschüre von Jacob Segall: "Die deutschen Juden als Soldaten im Kriege 1914–1918"
Quelle: Archiv Kellerhoff

Die antisemitische Umdeutung bruchstückhafter Ergebnisse und deren „Bestätigung“ in Geßlers Brief vom 26. Juli 1920 beurteilte der Nationalökonom Franz Oppenheimer in seiner 1922 erschienen Untersuchung unmissverständlich als „die größte statistische Ungeheuerlichkeit, deren sich eine Behörde jemals schuldig gemacht hat“. Das war noch relativ moderat formuliert.

Obwohl diese Fakten spätestens seit 1922 bekannt waren, schilderte Adolf Hitler noch zwei Jahre später die Sachlage angeblich aus eigener Anschauung entgegengesetzt. Im ersten Band von „Mein Kampf“ behauptete er: „Die Drückebergerei galt schon fast als Zeichen höherer Klugheit, das treue Ausharren aber als Merkmal innerer Schwäche und Borniertheit. Die Kanzleien waren mit Juden besetzt. Fast jeder Schreiber ein Jude und jeder Jude ein Schreiber.“

Die Judenstatistik des preußischen Kriegsministeriums_
Titelseite von Franz Oppenheimers Studie "Die Judenstatistik des preußischen Kriegsministeriums" (1922)
Quelle: Archiv Kellerhoff

Oppenheimer, der selbst als Referent im Kriegsministerium 1916/1917 mit der „Judenzählung“ befasst gewesen war, hatte vorausgesehen, dass alle Aufklärung über die tatsächlichen Ergebnisse der Statistik ignoriert werden würde: „Die Herren vom Hakenkreuz, die Antisemiten von Beruf, werden unentwegt behaupten, dass sich in der Etappe elf Prozent Juden befunden haben.“

Weise schrieb er: „Wir müssten die Mentalität des Völkchens schlecht kennen, wenn sie nicht sogar in dieser Widerlegung eine Probe jüdischer Frechheit erblickten.“ Hitlers Unterstellungen in seiner Hetzschrift, die von sehr viele Veteranen geglaubt wurden, bestätigten diese Annahme.

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