Das Gefühl des Triumphs konnte (und wollte) Adolf Hitler nicht unterdrücken. Am 2. Februar 1930 schrieb der „Führer“ der NSDAP an einen in Übersee lebenden Deutschen: „Durch eine Reihe widriger Umstände wurde das Weihnachtsgeschenk für Sie und Ihre verehrte Frau Gemahlin (...) statt im Dezember erst im Januar fertig.“ Und er fuhr fort, „die Bewegung“, also die bisherige Splitterpartei NSDAP, habe seit August 1929 „einen Aufschwung“ genommen, „der alles, was wir in dieser Richtung zu hoffen wagten, weit zurückließ.“
Instinktsicher, wie Hitler mitunter war, hielt er fest: „Den größten Erfolg erzielten wir in Thüringen. Dort sind wir heute wirklich die ausschlaggebende Partei. (...) Die Parteien in Thüringen, die bisher die Regierung bildeten, vermögen ohne unsere Mitwirkung keine Majorität aufzubringen.“
Diese beiden Sätze aus Hitlers Brief vom 2. Februar 1930 hat der bisherige Ministerpräsident Thüringen Bodo Ramelow jetzt getwittert, als Reaktion auf die Ereignisse im Erfurter Landtag am Mittwochnachmittag: Mit den Stimmen der in Thüringen besonders völkischen AfD hat sich der FDP-Politiker Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten wählen lassen.
Nun ist Ramelow als Linkspartei-Politiker und damit Sozialist (wenngleich als relativ moderater und pragmatischer) gewiss auch kein „lupenreiner Demokrat.“ Aber an der Tatsache, dass Kemmerich sich mit den Stimmen des rechtsextremen AfD-„Flügels“ wählen ließ, ändert das gar nichts.
Wie weit trägt die Parallele, die Ramelow mit seinem Tweet zieht? Welche Bedeutung hatte die Mitwirkung der NSDAP an der Regierungsbildung 1930 in Weimar (damals noch Thüringens Landeshauptstadt) für das Land und für die damalige deutsche Republik?
Der Aufstieg der NSDAP zur wesentlichen politischen Kraft in Deutschland vollzog sich im wesentlichen 1929/30. Noch bei den Reichstagswahlen 1928 hatte sie gerade einmal 2,6 Prozent der Stimmen erhalten, im gesamten Reich 810.127 – ein Warnsignal, gewiss, doch eher marginal gegenüber zum Beispiel 3,2 Millionen Stimmen für die genauso antidemokratische KPD.
Doch dann begann eine Dynamik, die binnen 18 Monaten die Demokratie in Deutschland in ihren Grundfesten erschütterte. Bei der ersten Landtagswahl des Jahres 1929 erreichte die NSDAP im winzigen Freistaat Lippe genau 2713 Stimmen, also 3,4 Prozent. Das war bereits das Doppelte wie im selben Wahlbezirk bei der vorangegangenen Reichstagswahl, aber immer noch im Bereich einer Splitterpartei. Auch die vier Prozent bei der nächsten Wahl in Mecklenburg-Schwerin schienen nicht wirklich besorgniserregend, wenngleich es sich ebenfalls um eine Verdoppelung handelte. Im deutlich größeren Sachsen dagegen verdreifachte sich der Anteil für die Hitler-Bewegung im Mai 1929: Die Dynamik der NSDAP-Erfolge steigerte sich.
Bei der Landtagswahl am 8. Dezember 1929 konnte die thüringische NSDAP ihren Stimmenanteil fast verdreifachen. Das war zwar etwas weniger als im benachbarten Sachsen, aber dennoch brachte das Ergebnis die Hitler-Bewegung in eine neue Position. Denn die SPD war zwar mit 32,3 Prozent der Stimmen und 18 der 53 Sitze die stärkste Fraktion geworden, hatte aber angesichts der Polarisierung der Gesellschaft keine Koalitionsoptionen: Nicht einmal rechnerisch reichte es mit den sechs Sitzen der extrem antisozialdemokratischen KPD für die notwendige absolute Mehrheit von 27 Sitzen.
Andererseits wollte von den bürgerlichen Parteien keine mit den Sozialdemokraten zusammenarbeiten – weder der Thüringische Landbund mit seinen neun Abgeordneten noch die mittelstandsnahe Wirtschaftspartei mit sechs oder die nationalliberale Deutsche Volkspartei mit fünf Mandaten. Die reaktionäre Deutschnationale Volkspartei mit ihren zwei Landtagssitzen sowieso nicht, und der eine Abgeordneten der linksliberalen DDP spielte ohnehin keine Rolle.
Erwin Baum, der starke Mann des Landbundes, fand sich nach längerem Zögern bereit, der NSDAP Koalitionsgespräche für eine rechte Koalition anzubieten. Adolf Hitler wusste genau, was er durchsetzen wollte.
An den Auslanddeutschen schrieb er in dem jetzt von Ramelow auszugsweise getwitterten Brief: „So erklärte ich zunächst prinzipiell mein Einverständnis, uns an der Regierungsbildung in Thüringen aktiv zu beteiligen. Hätte ich ,Nein’ gesagt und wäre es darüber zu einer Neuauflösung des Landtags gekommen, würden manche Wähler vielleicht den Entschluss, uns das Vertrauen zu schenken, wieder bedauert haben.“ Die fällige Neuwahl wäre vermutlich zuungunsten der NSDAP und der bürgerlichen Parteien ausgefallen.
Hitler hatte einen anderen Plan: „Nachdem auf solche Art unsere prinzipielle Bereitschaft zur Beteiligung an der Regierung abgegeben und angenommen worden war, stellte ich zwei Forderungen: Innenministerium und Volksbildungsministerium.“
Eine Intrige, die zur Fälschung führte
Autopsie einer Hitler-Fälschung: Am 30. Januar 1933 ernennt Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler, Franz von Papen wird Vizekanzler. Dem vorausgegangen war eine mündliche Vereinbarung, aus der Fälscher Konrad Kujau Kapital schlagen wollte.
Quelle: WELT/ Sven Felix Kellerhoff und Dominic Basselli
Dahinter steckte ein genau überlegtes Kalkül: „Es sind dies in meinen Augen die beiden in den L��ndern für uns wichtigsten Ämter. Dem Innenministerium untersteht die gesamte Verwaltung, das Personalreferat, also Ein- und Absetzung aller Beamten, sowie die Polizei. Dem Volksbildungsministerium untersteht das gesamte Schulwesen, angefangen von der Volksschule bis zur Universität in Jena sowie das gesamte Theaterwesen.“
Schon 1930 wusste der NSDAP-Chef um die Bedeutung gerade dieser Ressorts: „Wer diese beiden Ministerien besitzt und rücksichtslos und beharrlich seine Macht in ihnen ausnützt, kann Außerordentliches wirken.“ Das war übrigens auch auf der anderen Seite des Parteienspektrums bekannt. Es ist kein Zufall, dass die deutschen Kommunisten 1945/46 in allen Übergangsregierungen, in die sie im nun sowjetisch besetzten Teil des besiegten Deutschlands eintraten, ebenfalls das Innen- und das Bildungsministerium anstrebten.
Als wesentlichen Minister für die NSDAP wählte Adolf Hitler 1930 den Juristen, ehemaligen Münchner Kriminalpolizisten und wegen des Putschversuchs 1923 verurteilten Hochverräter Wilhelm Frick aus. Er wurde in Personalunion Innen- und Volksbildungsminister.
Hitler erteilte ihm zwei klare Aufträge: „Als Innenminister wird Dr. Frick eine langsame Säuberung des Verwaltungs- und Beamtenkörpers von den roten Revolutionserscheinungen vornehmen. Dr. Frick wird hier mit rücksichtsloser Entschlossenheit eine Nationalisierung einleiten, die den anderen bürgerlichen Regierungen zeigen kann, was wir Nationalsozialisten unter diesem Worte verstehen.“
In seinem Brief vom 2. Februar 1930 fuhr Hitler fort: „Die zweite große Aufgabe wird Dr. Frick als Volksbildungsminister in der Nationalisierung des Schulwesens erblicken. Wir werden in Thüringen nunmehr das gesamte Schulwesen in den Dienst der Erziehung des Deutschen zum fanatischen Nationalisten stellen. Wir werden ebenso sehr den Lehrkörper von den marxistisch-demokratischen Erscheinungen säubern, wie umgekehrt den Lehrplan unseren nationalsozialistischen Tendenzen und Gedanken anpassen.“
Beide Aufträge setzte Frick um. Laut einem Bericht der Londoner „Times“ machte er Thüringens Polizei „zu einem Instrument der NSDAP“. Andererseits entließ er linke und sozialdemokratische Schul- und Hochschullehrer; an der Universität Jena setzte er die Berufung des Antisemiten und Rassetheoretikers Hans F. K. Günther zum Professor durch.
Die Koalitionsregierung Baum-Frick bestand nur ein gutes Jahr. Dann wurde der Deutschen Volkspartei klar, dass sie der Aggressivität der Hitler-Bewegung in Staatsfunktionen nichts entgegenzusetzen hatte. Am 1. April 1931 stürzte der Landtag per Misstrauensvotum Frick (und den bedeutungslosen Willy Marschler als NSDAP-Minister ohne Ressort).
Doch der Schaden war angerichtet, das Tabu einer Regierungsbeteiligung der NSDAP gebrochen. Spätestens seit der Thüringer Koalition wussten alle politisch Interessierten in Deutschland, dass die NSDAP nach der Diktatur strebte und bereit war, dazu bürgerliche Parteien zu benutzen.
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