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  4. Kemmerich (FDP): Tausende Bürger demonstrieren gegen „Tabubruch“

Deutschland Thüringen

„Zivilisationsbruch“ – Tausende gehen gegen Kemmerich-Wahl auf die Straße

Korrespondent , Jena
Laute Proteste nach Ministerpräsidentenwahl

In mehreren Städten formiert sich Widerstand gegen die überraschende Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich. Ein politisches Erdbeben, das nun auch die große Koalition erheblich unter Druck setzt.

Quelle: WELT

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Die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen macht viele Bürger fassungslos. Am Mittwochabend kommt es in Jena zu einer Demonstration gegen den „Zivilisationsbruch“.

„Unglaublich“, „fürchterlich“, „schrecklich“ – die Adjektive, mit denen Redner und Demonstranten an diesem Abend in Jena die Vorgänge im Thüringer Landtag beschreiben, variieren und klingen doch gleich. Das Substantiv des Abends aber lautet „Bruch“. Dass sich der FDP-Fraktionschef Thomas Kemmerich am frühen Nachmittag mit den Stimmen der FDP und CDU, aber eben auch der AfD, zum neuen thüringischen Ministerpräsidenten wählen ließ, sei ein „Dammbruch“, ein „Tabubruch“, gar ein „Zivilisationsbruch“.


Etwa 2000 Menschen haben sich dem Aufruf der Grünen Jugend, der Jusos und der Linksjugend Solid folgend am Holzmarkt im Stadtzentrum versammelt. Gemessen an den rund 110.000 Einwohnern der Stadt eine überschaubare Zahl. Dennoch sind die Teilnehmer sehr zufrieden. „Für Jena ist das super“, sagt ein junger Mann vom örtlichen Ableger von Fridays for Future. „Das wurde alles spontan organisiert, wir hatten ja nur ein paar Stunden zur Mobilisierung“, ergänzt seine Mitstreiterin. „Damit konnte ja keiner rechnen.“

Spontandemonstration in Jena nach der überraschenden Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten
Spontandemonstration in Jena nach der überraschenden Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten
Quelle: Deniz Yücel

Demonstriert wird zur selben Stunde auch in Weimar, Gera, Saalfeld oder der Landeshauptstadt Erfurt, außerdem in Berlin, Leipzig, Hamburg und anderen Großstädten außerhalb der Landesgrenzen.

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Vor der Thüringer Staatskanzlei in Erfurt versammelten sich etwa 1000 Menschen und bildeten eine Menschenkette. Einige skandierten: „Wer hat uns verraten? Freie Demokraten!“ und „Nicht mein Ministerpräsident!“ Vor dem Eingang des Gebäudes brannten Kerzen, Demonstranten hielten ein Transparent „FDP und CDU: Steigbügelhalter des Faschismus“.

Eine der größten Demonstrationen aber fand in Jena statt. Einer jungen Stadt, geprägt von der Universität und dem Jenoptik-Konzern. Das sieht man der Demonstration auch an: ziemlich jung, ziemlich studentisch.


„Was heute im Landtag passiert ist, bestätigt alle, die Thüringen mit Nazi gleichsetzen“, sagt Heiko Knopf, der Vorsitzende der grünen Stadtratsfraktion, der zu den Rednern des Abends gehört. „Aber Thüringen ist nicht nur Höcke, AfD und NSU, es gibt auch ein pluralistisches, ein vielfältiges, ein warmherziges Thüringen.“ Dies wolle man mit dieser Demonstration zeigen. Dass die FDP und die CDU mit diesem Wahlergebnis nicht gerechnet haben, glaubt der 31-jährige Optikingenieur nicht, das glaubt hier niemand. „CDU und FDP haben es in Kauf genommen, sich von der AfD wählen zu lassen. Doch das ist nicht normal. Denn die AfD ist nicht normal.“

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Aber muss man sich als Demokrat nicht mit dem Ergebnis abfinden, wenn ein demokratisch gewählter Landtag in demokratischer Wahl einen Ministerpräsidenten wählt? „Nein“, findet Philipp Gliesing, der für die Linke im Stadtrat sitzt. „Eine wehrhafte Demokratie gibt es nur, wenn die Mehrheit für die Demokratie ist“, meint der 37-jährige Erziehungswissenschaftler. „Die AfD, zumindest die Höcke-AfD will die Demokratie abschaffen.“

Sorgen der Demonstranten: die FDP als Trittbrett für die AfD
Sorgen der Demonstranten: die FDP als Trittbrett für die AfD
Quelle: Deniz Yücel


Im Anschluss an die Kundgebung setzt sich die Menge in Richtung des CDU-Büros in Bewegung. Ganz vorne läuft der Antifa-Block. „Den rechten Konsens brechen“, steht auf dem Fronttransparent. Charakteristischer für die Demonstration aber sind Schilder, denen man ansieht, wie eilig sie gemalt wurden. „Schäm dich Kemmerich“, steht auf Pappschildern. Oder „Heute Kemmerich, morgen Höcke“. Oder „Franz von Papen gefällt das“ – eine Anspielung an den bürgerlichen Politiker, der am Ende der Weimarer Republik entscheidend dazu beitrug, dass Hitler Reichskanzler werden konnte. „Alle zusammen gegen den Faschismus!“, skandiert die Menge. Und: „Es gibt kein Recht auf Nazipropaganda!“

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Auch wenn die Demo zur CDU führt, richtet sich der Ärger mehr gegen die FDP. Dazu hat auch der Jenaer Oberbürgermeister Thomas Nitzsche beigetragen. Der FDP-Politiker hatte sich in einer Presseerklärung „überrascht“ über das Ergebnis gezeigt und seinem Parteifreund Kemmerich gratuliert. „Die FDP sagt doch immer, Leistung muss sich lohnen“, sagt eine Mittzwanzigerin, die sich als Mitglied der Satirepartei Die Partei vorstellt. „Und dann kommt die FDP mit gerade einmal 73 Stimmen über die Fünfprozenthürde und stellt plötzlich den Ministerpräsidenten.“ Sie klingt mehr belustigt als zornig.


Zumindest in Jena ist die FDP nicht irrelevant. FDP-Oberbürgermeister Nitzsche erhielt bei der Stichwahl im April 2018 fast zwei Drittel der Stimmen; bei der Landtagswahl im Oktober holte die Partei in den beiden Jenaer Wahlbezirken immerhin 7,4 bzw. 7,9 Prozent der Zweitstimmen. Doch allzu viele Wähler der FDP – oder auch der CDU – dürften sich nicht unter die Demonstranten verirrt haben. „Hier ist das linksbürgerliche Jena auf der Straße“, sagt eine Teilnehmerin.

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Ist also etwas dran an der Erzählung der AfD, dass Kemmerich von einer „bürgerlichen Mehrheit“ gewählt worden sei? „Die bürgerliche Mehrheit ist eine Diskursfigur und eigentlich eine Fiktion“, sagt die Soziologieprofessorin Sylka Scholz. Doch nach großen Analysen ist ihr an diesem Abend nicht zumute. Sie findet das alles „einfach unglaublich“.

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