In Frankreich gewinnt die Marine Le Pen die Parlamentswahlen, am Tag darauf übernimmt Ungarn mit seinem Ministerpräsidenten Viktor Orbán turnusgemäß für sechs Monate den Vorsitz der Europäischen Union. In Italien regiert seit bald zwei Jahren die Giorgia Meloni, in den Niederlanden hat Geert Wilders eine Regierung gebildet, und in Österreich wird bei den Wahlen im kommenden September wohl die FPÖ des Herbert Kickl gewinnen. Aus all dem könnte man den Schluss ziehen, dass rechtsradikale Parteien die Macht in der Europäischen Union übernehmen.

Aber bevor man das tut, ist es doch ratsam, den Blick auf zwei Dinge zu lenken: auf die Bedeutung der EU-Ratspräsidentschaft und auf Viktor Orbán.

Die Sache mit der Ratspräsidentschaft ist deswegen interessant, weil sie deutlich machen kann, dass die große Maschine Brüssel vorerst selbst einen Viktor Orbán an ihrer Spitze verdauen kann. Das hat zum einen System, zum anderen ist es dem Zufall geschuldet.

Eine der zentralen Aufgaben der alle sechs Monate wechselnden EU-Ratspräsidentschaft besteht darin, den Gesetzgebungsprozess in Gang zu bringen beziehungsweise zwischen den EU-Institutionen zu moderieren. Das Programm der Präsidentschaften wird allerdings langfristig festgelegt. Da kann Ungarn höchstens Akzente setzen. Das ist der systemische Teil.

Der zufällige Teil: Die ungarische Ratspräsidentschaft fällt in den Zeitraum nach den Europawahlen. In den nächsten Monaten geht es vor allem um die Verteilung der Posten und um die Neuzusammensetzung der Kommission. Bei der Gesetzgebung wird also nicht viel passieren. Viktor Orbán kann in dieser Zeit einige Projekte verzögern, aber allzu großen Schaden anrichten kann er nicht. Beispielsweise wird unter Ungarns Ratsvorsitz keines der 35 anstehenden Verhandlungskapitel mit dem Beitrittskandidaten Ukraine eröffnet werden – denn Orbán will die Ukraine nicht in der EU. Doch der Beitrittsprozess für dieses geschundene Land ist ohnehin auf viele Jahre angelegt, da fallen die sechs Monate Ungarn nicht so sehr ins Gewicht.

Orbán hat sich durch seine Nähe zu Putin isoliert

Der Blick auf Orbáns europäische Karriere zeigt außerdem, dass sich nicht nur in Europa, sondern auch innerhalb der Rechten Europas die Mehrheitsverhältnisse ändern. Noch vor wenigen Jahren war Viktor Orbán der Star der europäischen Konservativen. Die Zeit seines größten Einflusses liegt zwischen 2015 und 2022, zwischen dem Jahr, als binnen weniger Monaten Hunderttausende Menschen nach Europa kamen, und dem Jahr, als der russische Präsident Wladimir Putin Zehntausende Soldaten in Marsch setzte, um die Ukraine zu unterwerfen.

2015 wurde Orbán unter Europas Konservativen populär, weil er aussprach, wonach sich viele sehnten, aber was sie nicht öffentlich vertreten wollen: Grenzen dichtmachen! Ab 2022 isolierte er sich vollends, weil er trotz der russischen Invasion bis heute beste Beziehungen zum russischen Präsidenten Wladimir Putin pflegt. Diese Haltung hat ihn insbesondere von den anderen Osteuropäern entfremdet. In Sachen Migration standen sie eng an seiner Seite, aber von Russland fühlen sie sich existenziell bedroht.

Im Lager der extremen Rechten ist Orbán längst kein Star mehr. Andere strahlen jetzt heller als er, haben weit mehr Einfluss als er: die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni – und Marine Le Pen. Letztere hat beste Aussichten, die Präsidentschaftswahlen 2027 in Frankreich zu gewinnen.