ZEIT ONLINE: Dabei gibt es heute doch mehr Beratungsstellen und Orientierungshilfen im Internet als jemals zuvor. Da braucht man seine Eltern doch gar nicht.

Kracke: Viele Betroffene sehen das offenbar anders. Und manche Eltern, die nicht studiert haben, raten ihren Kindern eher vom Studium ab. Weil sie die Kosten scheuen, aber auch weil sie die Chancen unterschätzen, die ein Studium auf dem Arbeitsmarkt mit sich bringt. Zudem trauen sich Nichtakademikerkinder ein Studium oft nicht zu, haben Angst vorm Scheitern. In Akademikerfamilien herrscht dagegen ein größerer Bildungsoptimismus. Da sagen sich die Kinder wie die Eltern: Irgendwie wird es schon gehen. Selbst, wenn das Abitur nicht so gut ist.

ZEIT ONLINE: Hat ein schlechterer Abischnitt überhaupt einen Einfluss auf die Studierneigung?

Kracke: Ja schon, aber er ist nicht so groß, wie man es eigentlich erwarten könnte. Auch Freunde und Mitschüler und Mitschülerinnen haben nur einen relativ geringen Einfluss bei der Entscheidung, ein Studium aufzunehmen. Die größte Hürde sind die wahrgenommenen Kosten und der Einfluss der Eltern.

ZEIT ONLINE: Sind viele dieser Hürden nicht eingebildet? Es gibt doch Bafög, es gibt Beratung für sogenannte Arbeiterkinder.

Kracke: Gezielte Beratung hilft, das haben Interventionsstudien gezeigt. Wenn man Abiturienten aus weniger gebildeten Elternhäusern über finanzielle Unterstützungsangebote sowie den langfristigen Nutzen eines Studiums gezielt informiert, dann steigert das die Studienbereitschaft.

ZEIT ONLINE: Welche Möglichkeiten gibt es noch?

Kracke: Man könnte die Anträge fürs Bafög vereinfachen, viele junge Menschen empfinden die Formalitäten als zu kompliziert. Aber wenn man wirklich etwas erreichen will, muss man deutlich früher ansetzen.

ZEIT ONLINE: Das neue milliardenschwere Startchancen-Programm von Bund und Ländern soll besonders die Grundschule fördern.

Kracke: Es ist sicherlich richtig, gerade Grundschulen in schwieriger sozialer Lage besonders zu unterstützen, etwa mit mehr Lehrkräften, zusätzlichen Sozialpädagogen und extra Sprachunterricht. Man könnte außerdem die Übergangsempfehlungen von Lehrkräften verbindlicher gestalten. Denn eine Reihe von Eltern entscheidet sich gegen das Gymnasium, obwohl ihr Kind eine Empfehlung dafür bekommen hat. Bei Eltern mit akademischem Hintergrund ist es umgekehrt: Sie melden ihr Kind sogar dann am Gymnasium an, wenn die Noten der Grundschule das nicht hergeben.

ZEIT ONLINE: Wobei Akademikerkinder in der Regel schon die besseren Noten haben, und zwar von der ersten Klasse an.

Kracke: Das stimmt. Wir wissen aus vielen Studien, dass die Bildungsschere schon weit vor der ersten Klasse auseinandergeht. Der Grund ist das unterschiedliche Anregungsniveau. Wie viel Eltern mit ihren Kindern sprechen, wie häufig sie vorlesen: All das ist je nach sozialer Herkunft unterschiedlich. Das heißt, der Kampf gegen die Bildungsungleichheit müsste quasi gleich nach der Geburt beginnen. Leider ist der Anteil der Kinder aus sozial benachteiligten Familien, die in die Kita gehen, zuletzt sogar gesunken. Das zeigt der neue nationale Bildungsbericht.

ZEIT ONLINE: Wenn alles, was Sie fordern, optimal umgesetzt wird: Spielt die soziale Herkunft dann keine Rolle mehr beim Hochschulzugang?

Kracke: Doch. Das Elternhaus wird immer einen Einfluss darauf haben, was aus den Kindern wird. Auch in Vorzeigeländern wie Schweden oder Finnland gibt es keine absolute Chancengleichheit. Aber jedes Bildungssystem sollte dazu beitragen, diesen Einfluss so gering wie möglich zu halten. Und da gibt es in Deutschland deutlich Luft nach oben.