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Die Hafenstraße und das Leben nach dem Kampf

Demonstration in der Hamburger Hafenstraße Demonstration in der Hamburger Hafenstraße
Demo im November 1987: die Hamburger Hafenstraße
Quelle: picture-alliance / dpa/dpa
Sechs Jahre lang provozierten Hausbesetzer in der Hamburger Hafenstraße den Rechtsstaat. Doch die 80er-Jahre sind lange vorbei. Heute protestieren hier Künstler und Steuerberater gegen den Bau eines Einkaufszentrums. Und mit den Hausbesetzern von einst haben Hamburgs Offizielle Frieden geschlossen.

Ein wenig ist es wieder so wie früher. Von den Balkonen und aus den Fenstern hängen gelbe Fähnchen heraus, "No BNQ" steht darauf, und auf Nachfrage erklären die Anwohner, dass hier für den Erhalt von Altbauten, von denen angeblich einige noch aus Napoleons Zeiten stammen, und gegen den Bau eines Einkaufscenters demonstriert werden soll. BNQ, das bedeutet Bernhard-Nocht-Quartier, und genau genommen stehen an ebendieser Bernhard-Nocht-Straße auch viele der berühmten Häuser der Hamburger Hafenstraße, die den Hang hinab an der Elbe verläuft.

Vieles ist aber auch so anders als früher, hier oben auf St. Pauli. Die von 1982 an sechs Jahre lang hart umkämpften Hafenstraßen-Häuser sehen zwar noch sehr ähnlich aus wie damals, als sie beinahe täglich in der "Tagesschau" vorkamen und die Besetzer der Häuser den Rechtsstaat und das Bürgertum der Stadt herausforderten.

Wilde Plakate hängen in sieben Schichten übereinander geklebt an den Wänden, die drei Eingänge der kurzen Zeile wirken zumindest verbarrikadiert, wobei die Frage ist, vor wem sich die Bewohner schützen wollen: vor der Polizei, die allerdings schon lange kein gesteigertes Interesse mehr an ihnen hat, oder den Touristen, die aus einem riesigen Hotelneubau eine Kreuzung entfernt in Gruppen hierherkommen und sich abwechselnd in vielen deutschen Dialekten gegenseitig und etwas gehetzt dazu auffordern, mit der Digitalkamera vor den bunten Graffitis fotografiert zu werden: "Nu mach mal hinne!" Könnte ja sein, dass plötzlich doch ein alter Radikaler herauskommt und mit dem Blumentopf wirft.

Aber: Nein, könnte nicht sein. Hier leben heute Künstler und Steuerberater, in vielen Fällen jedenfalls Erwerbstätige, die andere Dinge im Kopf haben, als Leuten etwas auf den Kopf zu werfen. Sie mussten sich so langsam daran gewöhnen, dass sie zwar im Kampf gegen den Kapitalismus und das "politische Schweinesystem" einen nicht unbeachtlichen Sieg errungen haben, dass dieser einmal eingeknickte Staat aber seine Niederlage nun zu nutzen weiß und die bunten Hafenstraßen-Häuser als Dekor für die eigene Liberalität den Touristen anbietet.

"Vattenfall tunnelt die Hafenstraße"

Kürzlich hat die Bewohnergenossenschaft "Alternativen am Elbufer" sogar einen Vertrag mit dem schwedischen Stromerzeuger Vattenfall abgeschlossen, der Fernwärmeleitungen ausgerechnet vom Kraftwerksneubau Moorburg aus unter den Häusern durchlegen will. Jetzt hat die Genossenschaft etwas mehr Geld und der schwedische Energielieferant, eigentlich ein natürlicher Feind der linken Szene, freie Bahn. "Vattenfall tunnelt die Hafenstraße", ächzte die "taz".

Das offizielle Hamburg hat aber ohnedies längst seinen Frieden mit den Hausbesetzern von einst geschlossen, viele sind froh, dass die Altbauten erhalten geblieben sind, und für den CDU-Bürgermeister Ole von Beust gilt der Facettenreichtum des Stadtteils ohnehin als besonders hamburgisch. Einer seiner Vorgänger, Klaus von Dohnanyi (SPD), hatte es zu seiner Amtszeit in den umkämpften 80er-Jahren da nicht nur mit einer anderen CDU, sondern auch mit einem bis weit in seine eigene Partei hineinwirkenden empörten Bürgertum zu tun. Damals wurde das Tun der Besetzer als härteste Herausforderung des Rechtsstaates empfunden, die Hamburg in der Nachkriegszeit erlebt hatte.

Ab September 1981 zogen jugendliche Aussteiger, Autonome und Punker schrittweise in die heruntergekommenen und für den Abriss vorgesehenen Häuser ein. Eigentümerin der Immobilien war die städtische Wohnungsgesellschaft Saga. Einige frei gewordene Wohnungen wurden dem Studentenwerk überlassen, und zwar nicht mit Miet-, sondern mit "Nutzungsverträgen". Also zogen dort Studenten ein. Wenig später, im Oktober 1981, kündigte die Saga diese Vereinbarungen wieder, erlaubte den Studenten jedoch, vorerst in den Wohnungen zu bleiben.

Stillhalteabkommen im Oktober 1982

Das war ein aus der Sicht der Stadt fatales Zugeständnis, denn nun wechselten immer wieder die Bewohner, und zwar auch in Wohnungen, die amtlich als unbewohnbar erklärt worden waren. Die Saga verlor den Überblick. Die Baubehörde war nicht informiert, bis eines Tages im April 1982 ein Spruchband an der Hafenstraße verkündete: "Diese Häuser sind besetzt". Nun war die Hafenstraße ein Politikum, denn für solche Fälle sah die Senatspolitik vor: Räumung innerhalb von 24 Stunden.

Doch die SPD sah sich auch mit einem Erstarken der neuen Grünen konfrontiert und musste befürchten, dass eine Räumung den neuen politischen Gegner stärken könnte, zumal auch der eigene linke Flügel gegen eine harte Linie war. Das Ergebnis war, dass die Baubehörde im Oktober 1982 mit den Bewohnern ein Stillhalteabkommen schloss. Mit der Ausnahme von drei Häusern versprach sie die Instandsetzung der maroden Gebäude.

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Spätestens jetzt befand sich der Senat gegenüber der Hafenstraße auf der schiefen Ebene, und deren ausgebuffte Strategen nutzten das nach Kräften aus. Mit häufig kalkulierten Gewalttätigkeiten, die jahrelang die Schlagzeilen nicht nur in der Hansestadt beherrschten, führten sie den Senat vor, der immer wieder versuchte, die Lage am Hafenrand zu legalisieren und damit zu beruhigen. Es half alles nichts. Am 20. Dezember 1986 kam es zu schweren Krawallen, und am Tag darauf richtete eine Brandserie in Kaufhäusern Millionenschäden an. Gescheiterte Vertragsverhandlungen, aufschäumende, hasserfüllte Gewalt - das war die Hafenstraße im Jahr 1987.

"Institutionen zu zerstören habe ich abgelehnt"

Im Oktober standen mehr als 5000 Polizei- und Grenzschutzbeamte zum Sturm auf die Hafenstraßen-Häuser bereit, Hamburg drohten bürgerkriegsähnliche Zustände. In einer dramatischen Senatssitzung am 17. November, die wegen eines Anrufs des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker unterbrochen werden musste, machte Dohnanyi sich dieses Telefonat zunutze, um seine Widersacher im Senat zur Räson zu bringen, denn die waren strikt gegen weitere Zugeständnisse an die Hafenstraße.

Dohnanyi aber wollte endlich eine Vertragslösung - und setzte sie durch. Rückblickend sagt er: "Meine Einstellung war so wie gegenüber der Achtundsechzigerbewegung und der Grün-Alternativen Liste in Hamburg insgesamt: eine ambivalente. Institutionen zu zerstören habe ich immer abgelehnt. Sie mit Spott zu bedenken, in Zweifel zu ziehen, das finde ich, wenn es passt, richtig. Man muss aber immer wissen, dass auch hinterher eine gewisse Ordnung, insbesondere eine Rechtsordnung, herrschen muss."

Im Kampf um das jetzt geplante Einkaufszentrum im Bernhard-Nocht-Quartier kam es Ende Juni übrigens zu den ersten auch gewalttätigen Ausschreitungen. Doch die große Welle von damals dürfte sich nicht wiederholen - zu sehr hat sich dieser deutsche Ort mittlerweile verändert.

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