Die Bilder glichen sich in Hunderten deutschen Städte und Dörfer: Am 10. November 1938, einem Donnerstag, zündeten von Kiel im Norden bis Lörrach im Süden, von Graz (in der „heim ins Reich“ gekehrten Steiermark) im Osten bis Aachen im Westen SA- und SS-Leute jüdische Ritualgegenstände an und verbrannten sie – entweder noch in den Synagogen oder auf eigens aufgeschichteten Scheiterhaufen in der Nähe.
Im rheinhessischen Guntersblum, einem kleinen Ort mit damals 2600 Einwohnern, hatten Nationalsozialisten an diesem Tag sechs jüdische Männer mit Thorarollen, Gebetsschals und Talaren durch den Ort getrieben. Nach mehreren Stunden Quälerei, mit Schlägen und Demütigungen kam der Schandmarsch am Platz vor dem Rathaus an. Hier war brennbares Material aufgestapelt, vor allem aus der zerschlagenen Einrichtung der nahegelegenen Synagoge.
„Wir mussten uns im Kreise aufstellen“, erinnerte sich Ludwig Liebmann, einer der sechs gedemütigten Guntersblumer Juden. „Dann bekamen wir alle Gegenstände aus der Synagoge, mit denen wir maskiert worden waren, und die Thora-Rollen wieder abgenommen. Alles wurde auf einen Scheiterhaufen geworfen.“ Viele Guntersblumer verfolgten das Spektakel, doch konnte Liebmann keine Zahl angeben. „Wir mussten dem Verbrennen zusehen, bis alles in Asche und nichts mehr von all dem Geraubten aus der Synagoge übrig war.“
Die so oder ähnlich im gesamten Dritten Reich stattfindenden Verbrennungen sollten die gleichzeitig fremde wie heimische jüdische Kultur aus Deutschland austreiben; sie waren die Vorstufe zum Massenmord an sechs Millionen europäischer Juden. Trotz der gewissermaßen industriellen Menschenvernichtung gelang das nicht, denn mutige Menschen schafften es, im November 1938 wenigstens einige Kultgegenstände zu retten.
Aus der Synagoge in der Kölner Glockengasse rettete der katholische Priester Gustav Meinertz eine Thorarolle, aus dem Friedenstempel im bürgerlichen Berliner Bezirk Wilmersdorf zwei Jungs, David Zwingermann und Horst Löwenstein, sogar zwölf Heilige Schriften. Doch es gab auch das Gegenteil: Selbstbereicherung an jüdischen Kulturgut. In Guntersblum etwa verschwand an diesem Tag der wertvolle silberne Zeigestock für immer.
Die wohl größte Privatsammlung von Zeugnissen zum Antisemitismus hat das Deutsche Historische Museum (DHM) kurz vor dem 83. Jahrestag der als „Reichskristallnacht“ bekannt gewordenen Novemberpogrome erworben. Etwa 15.000 Artefakte hatte der Berliner Wolfgang Haney (1924 bis 2017) gesammelt.
Er war selbst Opfer des Rassenwahns: Geboren als Sohn einer assimilierten Jüdin und eines katholischen Vaters, wuchs er katholisch, galt aber seit 1935 durch die Nürnberger Gesetze als „Mischling ersten Grades“. Haney durfte kein Abitur machen, seine Eltern (der Vater weigerte sich, sich von seiner Frau zu trennen) mussten Zwangsarbeit leisten. Wolfgangs Mutter arbeitete zeitweise in der Bürstenwerkstatt von Otto Weidt, später versteckte sie sich in einem Wald bei Berlin und überlebte. Ihr Bruder, Wolfgangs Onkel, wurde jedoch in Auschwitz ermordet. Er selbst half Juden dabei, sich zu verstecken, und besorgte für sie Unterkünfte und Nahrung sowie gefälschte Lebensmittelkarten.
Nach dem Krieg entschied Haney sich, in Berlin zu bleiben, und erarbeitete sich als Ingenieur eine Karriere in der Verwaltung. Parallel sammelte er Münzen und war als Zeitzeuge zur Verfolgung der deutschen Juden in Schulen unterwegs. Erst in den 1980er-Jahren stieß er bei Münzbörsen, Flohmärkten und ähnlichen Veranstaltungen immer öfter auf Zeugnisse des Rassenwahns; er begann, sie systematisch zu sammeln.
Fast drei Jahrzehnte lang trug Haney alles zusammen, was für ihn erreichbar war, und lieh seit den 1990er-Jahren oft Exponate an Ausstellungen und Museen aus. Seine Sammlung, die nach seinem Tod vom Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin durchgearbeitet und dem DHM übergeben wurde, umfasst drei große Teile.
Einerseits Tausende von antisemitischen Postkarten, Plakaten, Handzetteln und Nippesfiguren aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Zweitens Dokumente, Fotografien, Plakate, Broschüren und andere Objekte aus der Zeit zwischen 1933 und 1945, die das eigentliche Verfolgungsgeschehen dokumentieren; hier ragt seine Sammlung echter „Judensterne“ heraus, die polnische Juden ab 1939 und ihre deutschen Leidensgenossen seit September 1941 in der Öffentlichkeit tragen mussten. Der dritte Teil umfasst Zeugnisse aus späterer Zeit, die das Fortleben des Judenhasses über den Holocaust hinaus belegen, vor allem in rechtsradikalen Kreisen.
Zu den besonders eindrucksvollen Objekten gehören Fotos von Juden, die von Wehrmachtssoldaten gedemütigt wurden, sowie ein Thora-Fragment, das deutsche Soldaten zwischen 1941 und 1944 als Packmaterial missbraucht hatten. Da es sich um Heiligtümer handelt, prüft die Jewish Claims Conference, ob sie sich als Exponate in künftigen Ausstellungen eignen oder nicht.
Leo Fränkel, der wie Ludwig Liebmann den Demütigungsmarsch durch Guntersblum überlebte (die vier anderen dazu gezwungenen Männer und ihre Familien gingen im Holocaust zugrunde), erinnerte sich an den 10. November 1938 und den brennenden Scheiterhaufen: „Wir wurden gezwungen, diesem Schauspiel beizuwohnen und das Feuer zu schüren, bis das letzte Stück jüdischer Religionsgegenstände dahin war.“
Sie finden „Weltgeschichte“ auch auf Facebook. Wir freuen uns über ein Like.