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Wachsender Judenhass

„Wer von meinen Freunden würde mich wohl verstecken?“

Autorenprofilbild von Jana Werner
Von Jana WernerFreie Autorin
Veröffentlicht am 14.06.2024Lesedauer: 6 Minuten
Sonja Lahnstein in ihrem Büro nahe der Hamburger Außenalster
Sonja Lahnstein in ihrem Büro nahe der Hamburger AußenalsterQuelle: Bertold Fabricius

Die Hamburgerin Sonja Lahnstein baut Brücken zwischen Kulturen und Religionen. Als Jüdin hat sie nun wieder Angst – und versucht dennoch, Gräben zu überwinden. Auf diesem Weg erwartet sie auch von ihrer Partei, der SPD, eine deutlichere Positionierung gegen Antisemitismus.

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Es ist alles wieder da – die Erinnerung, das Trauma, die Furcht. Seit dem 7. Oktober 2023 hat sich die Welt für Sonja Lahnstein und andere Jüdinnen und Juden verändert. „Meine Familie hat den Holocaust zwar weitgehend überlebt, doch die Geschichte ist plötzlich wieder präsent – bis hin zu Albträumen darüber, wer von meinen Freunden mich wohl verstecken würde“, sagt die 74-Jährige, als sie zum Gespräch in ihrem Büro nahe der Hamburger Außenalster empfängt. Die bodentiefen Fenster sind weit geöffnet, auf dem Schreibtisch steht der erste Flieder aus dem Garten, die Sonne scheint.

Das Brückenbauen zwischen Kulturen und Religionen bestimmt Lahnsteins Leben. Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel jedoch sei viel zerbrochen, seither „erfahren jüdische Menschen weltweit eine extreme Kälte“. Sichtbar werde, sagt sie, „ein offen zur Schau getragener Judenhass, obwohl wir Juden deutsche Bürger sind“.

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Auch sie und ihr Mann, der frühere Bundesfinanzminister Manfred Lahnstein, fragen sich, ob sie Angst haben. Ihre Antwort: „Ja, wir haben Angst, aber die müssen wir überwinden.“ Sie wolle nicht wegschauen und darauf hoffen, „dass nichts passiert – eine Einstellung, die sich schon einmal als fatal erwiesen hat“. Sie wolle sich gerade jetzt noch stärker zu Wort zu melden.

Bei dem Überfall der islamistischen Hamas auf Israel wurden mehr als 1100 Menschen ermordet, über 5400 verletzt und 240 Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. In der Folge wirkt sich der Nahostkonflikt auch in Deutschland auf nahezu alle extremistischen Bereiche aus, wie der Hamburger Verfassungsschutz diese Woche in seinem neuen Bericht einschätzt. Das islamistische Potenzial in der Hansestadt sei von 1755 Personen (2022) auf 1840 (2023) gestiegen, 83 Prozent davon gelten als gewaltorientiert.

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Die Polizei erfasste im vergangenen Jahr 132 antisemitische Straftaten in Hamburg, ein Anstieg um mehr als 80 Prozent gegenüber 2022. Im ersten Quartal dieses Jahres wurden 21 antisemitische Straftaten registriert, fünf mehr als im Vergleichszeitraum 2023. Zu den jüngsten islamistischen Aktivitäten zählt der Verfassungsschutz die Demonstrationen im April und Mai auf dem Steindamm im Stadtteil St. Georg, „die von der gesichert extremistischen Gruppierung ‚Muslim Interaktiv‘ organisiert wurden“. Die Behörde weiter: „Pro-palästinensische Proteste gegen das israelische Vorgehen im Gazastreifen wiesen häufig antisemitische Konnotationen auf.“

„Bürger vor Angriffen auf unsere Werte schützen“

Sonja Lahnstein treffen Demonstrationen wie diese „bis ins Mark“. Das geht so weit, dass sie die Gegend um den Steindamm mittlerweile meidet: „Ich traue mich nicht mehr dorthin.“ Die Aussagen von Innensenator Andy Grote (SPD) und Polizeipräsident Falk Schnabel, „wonach wir rechtlich nichts dagegen machen könnten, sind nur schwer zu akzeptieren“, betont die 74-Jährige. Es müsse möglich sein, die Gesetzgebung verschärft auf solche Aktionen anzuwenden, „wenn Menschen ‚Kalifat ist die Lösung‘ in einer deutschen Stadt rufen“. Das Land habe eine Verantwortung gegenüber seinen Bürgern – und dazu gehöre, „sie vor Angriffen auf unsere Werte und Gesellschaft zu schützen“.

Lahnstein ergänzt: „In diesem Zusammenhang erwarte ich auch von der SPD, der ich seit über 50 Jahren mit Überzeugung angehöre, sich eindeutiger zu positionieren.“ Und an die Gesellschaft insgesamt appelliert sie: „Wenn wir diese Bedrohung zulassen, gefährden wir unsere Demokratie.“

Lahnstein, 1950 in Zagreb im damaligen sozialistischen Jugoslawien geboren, kam als Teenager mit ihren Eltern nach Deutschland. Nach dem Volkswirtschaftsstudium arbeitete sie bei der Europäischen Union, dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. In diversen Projekten habe sie stets versucht, das Negative in etwas Positives zu kanalisieren. „Zum eigenen Schutz“, sagt sie, „aber auch, um etwas zu gestalten, um Brücken zwischen Menschen zu bauen“. Die CDU verlieh ihr kürzlich einen Preis für ihren Einsatz, etwa in dem interkulturellen Programm „Bridging the Gap“ oder der Jugendinitiative step21, die Toleranz und Zivilcourage fördert.

Was Lahnstein besorgt, ist, dass sich „nur wenige öffentlich mit Juden solidarisieren“. Kern des Problems sei, dass das Judentum nach wie vor als fremd empfunden werde. Der israelbezogene Antisemitismus sei nur ein Ventil, „eine offene Wunde, wie mein Mann in seinem Buch über Antisemitismus schrieb, das älteste, hartnäckigste und fürchterlichste Vorurteil in der Geschichte der Menschheit“.

In der Kultur und Wissenschaft erleben wir derzeit, so Lahnstein, „auf bitterste Art und Weise Rassismus, Vorurteile und Ausgrenzung bis hin zu einer Hysterie mit Blick auf Ein- und Ausladungen bei Preisverleihungen“. Dabei werde „mit der Freiheit der Rede argumentiert, während zeitgleich israelische Wissenschaftler und Künstler boykottiert werden“ – darunter von der Universität Haifa, in deren Aufsichtsrat sie sitzt.

Rot-Grün lehnt strategische Partnerschaft ab

Von ihrer Wahlheimat Hamburg erwartet die 74-Jährige strategische Partnerschaften mit Israel – Kooperationen wie sie Hannover und Berlin anstreben oder Erfurt, Mannheim, Düsseldorf und Bremen bereits pflegen. Doch der rot-grüne Senat „lehnt diesen Vorstoß ab und verkündet unterdessen eine Partnerschaft mit Nantes“, kritisiert die Brückenbauerin. Eine Kooperation mit einer israelischen Region würde die Zivilgesellschaft in beiden Ländern stärken.

In Hamburg konzentriert sich Lahnstein zufolge viel auf den Wiederaufbau der 1938 zerstörten Bornplatzsynagoge, weitere Impulse fehlten. Überdies sei Hamburg die einzige deutsche Großstadt ohne ein jüdisches Museum. Beispiele, die Lahnstein nachdenklich machen, obwohl es Möglichkeiten gibt, „die neuere jüdische Geschichte zu erzählen, etwa in der Rothenbaumchaussee Nummer 26, nach der Vorlage des wunderbaren Buches von Michael Batz, ‚Das Haus des Paul Levy’“.

Aus Sicht des Senats verbinden Hamburg und Israel „bereits gute und vielfältige Beziehungen – etwa in den Bereichen Wirtschaft und Start-ups, Wissenschaft, Schule und Bildung“, teilt Senatssprecher Marcel Schweitzer auf Anfrage mit. Die Aktivitäten würden unabhängig von einer formalen Partnerschaft mit einer einzelnen Stadt politisch-administrativ unterstützt. So verständigten sich das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und das Tel Aviv Sourasky Medical Center während einer Reise von Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) auf einen Forschungs- und Fachkräfteaustausch.

„Mit Haifa wurden die Beziehungen in den letzten Wochen noch einmal durch engere Kooperationen der Universität Hamburg und der Hamburger Hochschule für Bildende Künste mit der University of Haifa intensiviert“, sagt Schweitzer. Rot-Grün fördere die Verbindungen, „ohne eine künftige strategische Partnerschaft mit einer geeigneten israelischen Stadt auszuschließen“.

Aus der Wissenschaftsbehörde heißt es überdies, dass sich Senatorin Katharina Fegebank (Grüne) für ein engeres Zusammenrücken ausspricht. „Der wechselseitige Transfer von Wissen und Ideen, der regelmäßige Kontakt zwischen Menschen und der Austausch von Studierenden und Forschenden sind wesentliche Elemente der tiefen Verbundenheit, die unsere Beziehungen zu Israel ausmachen“, betont Behördensprecher Christian Wöhst. Wichtig für das Haus sei, „diese Verbundenheit durch einen regelmäßigen, strategischen und institutionalisierten Austausch auf Dauer zu stellen“.

Sonja Lahnstein ist dieser Tage wieder nach Israel gereist, in den Norden des Landes nach Haifa, wo die Universität über ein Drittel arabische Studenten hat. „Auf dem Campus treffen sich täglich 18.000 Menschen, für mich der liberalste und multikulturellste Ort, den ich kenne“, betont sie und hält daran fest, Brücken zu bauen. Die Kraft dafür sei nicht immer da: „Ab und zu bin ich verzweifelt, müde und desillusioniert“, aber ihre Projekte motivierten sie. Ferner sei ihr Mann eine rheinische Frohnatur, er baue sie auf. „Ich mache weiter“, verspricht Lahnstein, die daran glaubt, dass Wissenschaft und Kunst Ängste verarbeiten, Vorurteile abbauen und Gräben überwinden. Sie selbst gehöre zu jenen Menschen, die versöhnlich seien.