Ein Anruf. Mit einem morgendlichen Anruf begann das Pogrom von Guntersblum. Am 10. November 1938, einem Donnerstag, läutete gegen sieben Uhr in der Früh der Dienstapparat im Rathaus des rheinhessischen Winzerdorfes. Ein Regierungsrat Wenz aus dem Landratsamt Mainz befahl Gendarmeriemeister Georg Knopp, sofort die Häuser aller Guntersblumer Juden nach Waffen zu durchsuchen und die erwachsenen jüdischen Männer zu inhaftieren. Außerdem bekam der Polizist die Weisung, „den weiteren Dingen, die da folgen würden, ihren Lauf zu lassen und nicht einzuschreiten“.
Knopp tat, wie ihm geheißen: In den folgenden anderthalb oder zwei Stunden durchsuchten er und sein Gehilfe mit Unterstützung von zwei SA-Männern alle „jüdischen“ Häuser in dem 2600 Einwohner kleinen Ort, verhafteten sechs Männer im Alter von 33 bis 74 Jahren und sperrten sie in der Zelle im Souterrain der Bürgermeisterei ein.
Am Abend zuvor, am 9. November 1938 zwischen 21.30 und 22 Uhr, hatte Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels von einer NSDAP-Feier in München aus die Weisung erteilt, dem „Volkszorn“ gegen alles Jüdische freien Lauf zu lassen. Weil er aber wusste, dass es diese Wut gar nicht gab, befahl er gleichzeitig den lokalen Propagandaleitern der Partei, den „Volkszorn“ zu inszenieren.
Ein Augenzeuge von Goebbels’ Weisung sagte später aus: „Die mündlich gegebenen Weisungen des Reichspropagandaleiters sind wohl von sämtlichen anwesenden Parteiführern so verstanden worden, dass die Partei nach außen nicht als Urheber der Demonstrationen in Erscheinung treten, sie in Wirklichkeit aber organisieren und durchführen sollte.“
Vor den Augen Schaulustiger brannte die Synagoge von Glatz nieder
Zerstörte Geschäfte, geplünderte Wohnungen, brennende Synagogen - in der Nacht zum 10. November 1938 wurden Tausende Juden Opfer nationalsozialistischer Gewalt. Auch die Synagoge im schlesischen Glatz wurde in Brand gesteckt.
Quelle: WELT
Aktiv wurden in der Nacht und am folgenden Tag in weit über tausend Orten im gesamten Dritten Reich SA- und SS-Leute, Mitglieder des Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps (NSKK) – und zahlreiche Hitlerjungen. Ihre Beteiligung war für viele der Opfer am schwersten zu verstehen.
Goebbels’ Weisung hatte Guntersblum nicht mehr rechtzeitig erreicht, um noch in der Nacht ausgeführt zu werden. So begann das Pogrom erst am folgenden Morgen – mit einer sonst in Deutschland nur etwa zwei Dutzend Mal bekannten, besonders perfiden Zuspitzung. Einzigartig ist Guntersblum sogar, was die Dokumentation der Geschehnisse am 10. November 1938 angeht: mehr als 150 Aussagen von Opfern, Tätern, erwachsenen Zuschauern und jugendlichen Zeugen sind in verschiedenen Archiven in Speyer, Saarburg, Koblenz, Berlin, Stanford und New York erhalten, insgesamt mehrere Tausend Blatt. Damit erlaubt gerade der Fall dieses rheinhessischen Winzerdorfes, genau nachzuvollziehen, wie der Rassenhass in offenen Terror umschlug.
Die sechs verhafteten Juden wurden von Dorfbewohnern auf dem Weg zur Bürgermeisterei beschimpft und angepöbelt. Ein damals Achtjähriger erinnerte sich: „Ich habe gesehen, wie sie den Juden Wolf angespuckt haben.“ Als die Männer in der Zelle eingesperrt waren, versammelten sich vor deren kleinem Fenster einige Guntersblumer und drohten den Eingesperrten: „Aufhängen!“, forderte der Gemeindediener Hans Scheffel, andere riefen: „Eure Stunde hat jetzt geschlagen!“ oder gleich: „Hals abschneiden!“
Während die eingesperrten jüdischen Männer einem ungewissen Schicksal entgegensahen, gingen mehrere Guntersblumer Nationalsozialisten zur nahe gelegenen Synagoge – ein Weg von nicht einmal 200 Metern. Hier verwüsteten sie die Einrichtung und rafften so viele religiöse Gegenstände zusammen, wie sie tragen konnten: Thorarollen, Gebetsschals und Gewänder. Alles wurde in die Bürgermeisterei gebracht.
Um die Mittagszeit brachte man die sechs Gefangenen aus dem Gemeindegefängnis in einen Raum im Hauptgeschoss und staffierte sie aus: Eugen Wolf, 45 Jahre alt, musste einen besonders langen Talar überziehen und eine große Thorarolle tragen. Der 70-jährige David Rüb, der noch vier Jahre ältere David Monat und der 33 Jahre alte Ludwig Liebmann bekamen ebenfalls Umhänge und Gebetsschals umgelegt sowie je eine Thorarolle in die Hände gedrückt. Adolf Grünewald, 60 Jahre, klein gewachsen und leicht körperbehindert, wurden zwei Schals um den Körper geknotet. Leo Fränkel (45) musste eine Mütze aufsetzen, einen Gebetsschal umbinden, eine Glocke in die Hand nehmen, die Ortsschelle, und das Rathaus verlassen.
Dann zwangen der SA-Mann Johann Oswald, der Propagandaleiter und Wirt des Parteilokals Heinrich Schmunk sowie mehrere weitere Nazis die sechs Juden, zur Belustigung der „arischen Volksgenossen“ durch den ganzen Ort zu laufen. Schmunk war zuvor in die Volksschule des Ortes gegangen und hatte dem Rektor befohlen, den Kindern schulfrei zu geben; sie sollten dem Schandmarsch beiwohnen.
Leo Fränkel, der eine der sechs gedemütigten jüdischen Männer, der dem Holocaust entkam, bezeugte: „Wir wurden stundenlang geschlagen, mit Latten, Stöcken und Eisenstücken, getreten, es wurden uns Beine gestellt, damit wir darüber stürzen.“ Er musste mit der Ortsschelle seinen fünf Leidensgenossen vorausgehen und die Guntersblumer auf den Schandmarsch aufmerksam machen.
Der Weg über die breiteren Straßen Guntersblums wie zum Beispiel die Hauptstraße war noch nicht einmal das Schlimmste: „Als wir durch die ganz schmalen Gässchen wie Bienengässchen, Schulgässchen und ähnliche geführt wurden, ging die Schlägerei gegen uns erst richtig los“, gab Liebmann, der andere Überlebende, 1946 zu Protokoll: „Ein jeder von uns Juden musste in diesen schmalen Gässchen abwechselnd ans Ende dieser schändlichen Prozession und auf uns wurde dann mit allen möglichen Gegenständen eingehauen. Ich zum Beispiel wurde in der Bienengasse ans Ende der Prozession geholt und so verhauen und getreten, dass es mir nur mit äußerster Kraft möglich war, mich aufrecht zu halten.“ Nach der Erinnerung eines Guntersblumer Jungen wurden Liebmann sogar „Pferdeäpfel auf der Glatze zerrieben“.
Als hauptsächliche Schläger benannten Fränkel und Liebmann ein gutes Dutzend Guntersblumer, darunter neben Oswald, Schmunk und Scheffel mehrere Jugendliche. Ein erst Zehnjähriger zum Beispiel warf Fränkel Sand in die Augen, ein 14-Jähriger zündete die zusammengeknoteten Gebetsschals auf dem Rücken von Adolf Grünewald an, warf ihn zu Boden und trat die Flammen mit seinen Stiefeln aus. Der Hass kannte kein Mindestalter.
Gleichzeitig wurden ihre Häuser geplündert. Das Wohn- und Geschäftsgebäude der Familie Wolf zum Beispiel in der Hauptstraße 41 wurde von mehr als zehn Männern geplündert; weitere bis zu 30 hielten sich im Hof auf. Eine damals 14-jährige Augenzeugin erinnerte sich an schlimme Szenen: „Da ging Porzellan zu Bruch, Lampen wurden aus Wand und Decken gerissen, Möbel zerschlagen, und zum Schluss hat jemand ein Deckbett aufgeschlitzt und die Daunen über das schöne hochgesteckte schwarze Haar von Frau Wolf rieseln lassen.“ Auch ein Klavier flog aus dem ersten Stock auf die Straße.
SA-Leute rafften im Haus der Wolfs dessen Geschäftsbücher zusammen und verbrannten sie auf der Straße – vermutlich, um die Belege für Schulden zu beseitigen, die sie bei Eugen Wolf hatten. Das Zimmer seiner Tochter Marianne wurde ebenso geplündert; jedenfalls brachte ein Junge aus der Nachbarschaft Spielsachen aus der Hauptstraße 41 mit nach Hause und spielte damit „längere Zeit“.
Nach dem Schandmarsch durch den Ort kamen die sechs Männer zurück zum Platz vor dem Rathaus. Dort hatten Nationalsozialisten brennbares Material aufgestapelt, vor allem aus der zerschlagenen Einrichtung der Synagoge. „Wir mussten uns im Kreise aufstellen“, sagte Ludwig Liebmann aus, „bekamen alle Gegenstände aus der Synagoge, mit denen wir maskiert worden waren, und die Thora-Rollen wieder abgenommen. Alles wurde dann auf einen Scheiterhaufen geworfen“. Mit Benzin brachten die Haupttäter Heinrich Schmunk, Hans Scheffel „und einiges anderes Pack“ das Feuer zum Lodern.
„Wir mussten dem Verbrennen zusehen, bis alles in Asche und nichts mehr von all dem Geraubten aus der Synagoge übrig war“, berichtete Liebmann. Das kleine, um 1860 zum jüdischen Tempel von Guntersblum umgebaute Haus selbst konnte nicht abgebrannt werden, weil es dicht eingebaut war in den Ortskern. Nach der Verbrennung der Kultgegenstände und der Synagogeneinrichtung wurden die sechs jüdischen Männer wieder in die Zelle gesperrt.
Am späten Nachmittag dieses Donnerstags erreichte Goebbels’ Weisung, die Ausschreitungen zu beenden, den Ort in Rheinhessen. Gegen 18 Uhr wurde Bürgermeister Rösch gesehen, als er auf einem Moped zu verschiedenen Häusern von Juden im Ort fuhr und den SA-Leuten befahl, das Zerstörungswerk abzubrechen: „Durchs Radio kam – alles muss aufhören!“ Doch er drang bei seinen Parteigenossen nicht durch. Also mobilisierte Rösch die Freiwillige Feuerwehr von Guntersblum, um Wachen gegen Plünderer aufzustellen. Doch in den Weinkellern betranken sich Plünderer noch bis in den frühen Morgen – auch unter ihnen waren einige ältere Hitlerjungen.
Sven Felix Kellerhoff, WELT-Geschichtsredakteur, hat über die Ereignisse in Guntersblum ein Buch geschrieben: „Ein ganz normales Pogrom. November 1938 in einem deutschen Dorf“. (Klett-Cotta, Stuttgart. 224 S., 22 Euro).
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Dieser Artikel wurde erstmals 2018 veröffentlicht.