Die Todesangst ist den Frauen anzusehen. Mit zerrissener Kleidung, teilweise in Unterwäsche hocken sie auf dem Pflaster, umringt von Stehenden, die Knüppel oder Stangen drohend in Händen halten. Auf anderen Bildern derselben Serie werden dieselben und andere Frauen halbnackt durch die Straße getrieben, auch einige alte Männer, auf die Täter einprügeln, von denen man kaum etwas sieht. Ein Pogrom im ursprünglichen Sinne: entfesselte Gewalt gegen Schwächere, die kurzerhand totgeschlagen werden.
Es sind fürchterliche Fotos, entstanden in Galiziens Hauptstadt Lemberg wohl am 1. Juli 1941. Der Kommandeur des Bataillons 800 „Nachtigall“, einer aus ukrainischen Nationalisten gebildeten Sonderheit der Abwehr, des deutschen Armee-Nachrichtendienstes, meldete: „Es setzten verstärkt Gewaltaktionen gegen die Juden ein, die teilweise schlimmsten Pogromcharakter annahmen.“ Polizisten, so der Bericht weiter, stachelten „durch rohes und abstoßendes Verhalten gegenüber Wehrlosen die Bevölkerung auf“.
Wegen der Exzesse und der sie dokumentierenden Fotos wuchs diesem fürchterlichen Geschehen in Lemberg nach 1945 große Bedeutung zu – und weil ein Augenzeuge der damalige Oberleutnant der Reserve Theodor Oberländer war, später im zweiten und dritten Kabinett Adenauer Bundesvertriebenenminister. Auf ihn konzentrierte sich die Propaganda aus der DDR auch und vor allem wegen Lemberg. Was also war geschehen?
Nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 hatten ukrainische Nationalisten in Lemberg ihre Chance gesehen, die seit 1939 währende Besetzung durch die Sowjetunion abzuschütteln. Doch der Geheimdienst NKWD, der manchmal auch noch unter seinem vorherigen Namen GPU genannt wurde, war trotz der näher rückenden deutschen Truppen noch stark genug, diesen Aufstandsversuch zu unterdrücken; mehrere Tausend angebliche oder tatsächliche Aufständische wurden im Stadtgefängnis sowie in der NKWD-Zentrale und der Militärhaftanstalt eingesperrt.
Als Wehrmachtsverbände – konkret die 1. Gebirgsjägerdivision (der zu dieser Zeit auch das Bataillon „Nachtigall“ zugeordnet war) – Lemberg immer näher kamen, bereiteten die sowjetischen Geheimdienstler ihre eigene Flucht vor – und ließen vorher die Gefangenen zum größten Teil töten, oft durch Genickschuss. Für die NKWD-Mannschaften mit den typischen blauen Mützen war das kein besonderer Befehl; sehr viele von ihnen hatten sich seit Beginn des Großen Terrors Mitte 1937 an Massenmord gewöhnt. Bald lagen mindestens 2464, eher aber 3500 bis 4000 getötete Lemberger in Zellen und Kellern der Gefängnisse herum oder waren bereits in Massengräbern verscharrt worden.
Am Morgen des 30. Juni 1941 marschierten die Männer des Bataillons „Nachtigall“ in Lemberg ein. Vermutlich der ukrainische Teil der Bevölkerung begrüßte sie begeistert, überhäufte sie mit Blumen und feierte sie als Befreier. Die erste Kompanie besetzte die Kathedrale, die zweite das Elektrizitäts- und das Gaswerk sowie die Gefängnisse der Stadt und die dritte den Bahnhof und den Rundfunksender.
Am Nachmittag besichtigten Oberländer und einige andere Offiziere zwei Gefängnisse und sahen dort NKWD-Opfer. Soldaten des Bataillons hatten schon damit begonnen, Leichen in Reih und Glied auszulegen, damit Hinterbliebene nach ihren Angehörigen suchen konnten. Daraus entstand eine mörderische Dynamik.
Der örtliche Metropolit (Bischof) Andrej Sheptistkyj hatte über das lokale Radio dazu aufgerufen, allen Gruppen der Bevölkerung „unabhängig von ihrem Glauben, ihrer nationalen Zugehörigkeit und ihrem sozialen Status“ den gleichen Schutz zu gewähren – nach allem, was man weiß, war er tatsächlich kein Antisemit. Trotzdem begannen aufgehetzte Lemberger nun eine Hatz auf Juden.
Von den etwa 360.000 Einwohnern von Lemberg waren im Sommer 1941 etwa 160.000 katholische Polen, etwa 150.000 Juden und rund 50.000 ethnische Ukrainer. Schon unmittelbar nach dem Einmarsch des Bataillons „Nachtigall“, dem bald weitere Verbände der Gebirgsjäger gefolgt waren, hatten ukrainische Nationalisten in der Stadt Plakate aufgehängt, die Vergeltung für die „Gräueltaten jüdischer Bolschewisten“ forderten.
Tatsächlich waren manche Täter des NKWD jüdischer Abstammung, 1939 noch etwa jeder 25. in der Leitung des Dienstes. Freilich hatten sie ihre Religion ausnahmslos abgelegt. Doch den ukrainischen Nationalisten genügte deren Herkunft, um den Hass ihrer Anhänger auf „die Juden“ als Generalfeind zu lenken. So eskalierten die Angriffe auf jüdische Lemberger. Vor allem im fast ausschließlich von Juden bewohnten nördlichen Stadtteil Zamarstynow tobte ein Mob, zerrte Menschen aus ihren Wohnungen, plünderte, brandschatzte und mordete.
„Zentraler Schauplatz der Pogrome“, schreibt der Hamburger Historiker Philipp-Christian Wachs in seiner Biografie über Theodor Oberländer, „waren die Lemberger Gefängnisse, in die eine große Zahl von Juden getrieben wurden.“ Mit Prügeln, Latten und Faustschlägen wurden mehr als tausend Menschen in den Hof des Stadtgefängnisses geschafft und zum Teil umgebracht.
All das spielte sich vor den Augen deutscher Offiziere ab, wie ein Eintrag im Kriegstagebuch der 1. Gebirgsjägerdivision beweist: „Während der Kommandeursbesprechung hörte man das Schießen im GPU-Gefängnis Lemberg, wo Juden die in den letzten Wochen auf jüdische Denunziation hier ermordeten Ukrainer (mehrere Tausend) begraben mussten. Auf Antreiben der ukrainischen Bevölkerung kam es am 1. Juli zu einem regelrechten Juden- und Russenpogrom in Lemberg.“
Inwieweit auch Männer des Bataillons „Nachtigall“ und reguläre deutsche Soldaten daran beteiligt waren, ist unklar. Nach Oberländers eigenem Tagebuch verschoss die Einheit Anfang Juli 1941 in Lemberg keine einzige Patrone. Ob Bataillonsangehörige sich mit anderen Waffen am Morden beteiligt haben, ist nicht nachweisbar, aber auch nicht zu widerlegen. Und jedenfalls beendeten sie die Übergriffe nicht, denen geschätzt etwa 4000 Menschen zum Opfer fielen.
„Es scheint, dass die Lemberger Pogrome durch eine verhängnisvolle deutsch-ukrainische Wechselwirkung zusätzlich begünstigst wurden“, schreibt Wachs. Denn am 2. Juli 1941 traf ein mobiles Mordkommando der deutschen Einsatzgruppe C in Lemberg ein, deren Aufgabe die Tötung an vorläufig „nur“ jüdischen Männern direkt hinter der Front war.
Der österreichische Nationalsozialist Felix Landau, Mitglied dieser Todesschwadron, hielt in seinem Tagebuch fest: „Eben kehren wir zurück, 500 Juden standen zum Erschießen an.“ Doch obwohl Massenmord seine tägliche Aufgabe war, fühlte sich Landau abgestoßen von dem, was er in Lemberg sah: „Wir fuhren zur Zitadelle, dort sahen wir Dinge, die bestimmt noch selten jemand gesehen hat.“ Genau beschrieb er die Grausamkeiten, deren Zeuge er wurde, und bemerkte abschließend: „Aus Wut und Hassgefühl wurden nun die Juden getroffen. Nichts dagegen, nur sollten sie die Juden in diesem Zustand nicht so herumlaufen lassen.“
Zwar gab es ähnliche Exzesse vielfach hinter der Ostfront im Sommer 1941, doch vielleicht nirgendwo so konzentriert wie in Lemberg und gewiss an keinem Ort besser dokumentiert. Das hebt die galizische Hauptstadt Lemberg in der Erinnerung an die Eskalation der Gewalt heraus.
Und Oberländer? Die DDR bezichtigte ihn rein instrumentell, um damit die Bundesregierung treffen zu können. Irgendeine aktive Beteiligung konnte ihm nicht nachgewiesen werden, weshalb die Stasi passende Beweis-„Dokumente“ auch fälschen ließ. Mitwisser der tagelang währenden Hölle auf Erden in Lemberg Anfang Juli 1941 jedoch war Theodor Oberländer gewiss.
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