Seit dem Frühjahr 1929 eilte die NSDAP von Wahlerfolg zu Wahlerfolg. Mal verdoppelte, mal verdreifachte sie bei Kommunalwahlen ihren Stimmenanteil gegenüber der Reichstagswahl 1928. In der Reichshauptstadt Berlin stieg ihr Ergebnis gar von 1,6 auf 5,8 Prozent. Es gab also Warnzeichen. Dennoch hatte niemand erwartet, was am 14. September 1930 geschah: Hitlers Partei gelang bei den vorgezogenen Reichstagswahlen ein Anstieg von 2,6 auf 18,3 Prozent – zur zweitstärksten Partei.
Der Zeithistoriker Hans-Ulrich Thamer erklärt in seinem neuen Buch die Bedeutung, die die NSDAP von „der Gründung bis zum Ende des Dritten Reiches“ hatte. Der Emeritus der Universität Münster gehört seit mehr als 30 Jahren zu den führenden NS-Experten weltweit.
WELT: Was war die NSDAP vor allem? Eine Wahlkampforganisation? Eine Machtmaschine? Ein Kontrollinstrument für die Gesellschaft?
Hans-Ulrich Thamer: Sie war vieles davon, je nach Zeitpunkt und Ort ihrer Aktivitäten: Zunächst eine Glaubens- und Kampfbewegung, dann vor allem eine Propaganda- und Wahlkampfmaschine, schließlich ein dynamischer Machtträger im NS-Regime und immer schon ein Gewalt- und Verfolgungsorgan, das zunehmend Kontroll- und Disziplinierungsansprüche umsetzte. Die Vielgestaltigkeit ihres Auftretens machte ihre Attraktivität und die widersprüchliche Wahrnehmung der Zeitgenossen aus.
WELT: Der Parteien- und Wahlforscher Jürgen W. Falter nennt die NSDAP eine „Volkspartei des Protestes“.
Thamer: Mit den wachsenden Erfolgen bei der Mobilisierung wurde die NSDAP, vor allem seit der Endphase der Weimarer Republik, zu einer schichten- und milieuübergreifenden Massenpartei. Das hatte sie vielen der damaligen milieu- oder konfessionsgebundenen Parteien voraus. Was ihre Wähler und Mitglieder vereinte, waren jedoch nicht gemeinsame Ziele und Werte, es war vor allem der Protest gegen „das System“, das für vieles oder alles verantwortlich gemacht wurde: für die militärische Niederlage von 1918 wie für die Demütigungen des Versailler Friedensvertrags, für materielle Not wie für versperrte Aufstiegserwartungen, für Orientierungs- und Zukunftslosigkeit.
WELT: Wer waren denn nun die wesentlichen Wählergruppen von Hitlers Partei?
Thamer: Lange Zeit galt die NSDAP als klassische Protest- und Mobilisierungsbewegung von enttäuschten und radikalisierten Mittelschichten, und in der Tat waren Angehörige des alten und des neuen Mittelstandes gemessen an ihrem Anteil an der gesamten Erwerbsbevölkerung überrepräsentiert. Doch konnte die NSDAP auch sehr viele Angehörige der Arbeiterschaft für sich gewinnen und schließlich auch Angehörige der bürgerlichen Schichten und traditionellen Oberschichten. Auffällig war vor allem der Anteil der jungen Generation; die NSDAP war auch Ausdruck eines Jugendprotestes, der mit der Parole „Macht Platz, ihr Alten“ viel Zustimmung gewann.
WELT: Welche Bedeutung hatte die Partei für die Machtübernahme Hitlers am 30. Januar 1933?
Thamer: Die NSDAP mit ihren Gliederungen und angeschlossenen Verbänden von der SA bis zur HJ war unverzichtbares wie teilweise auch ungezügeltes Gewalt- wie Mobilisierungsinstrument, das einen Teil der Dynamik der Machteroberung im Jahr 1933 erklärt. Das gewaltige Wachstum der Parteimitglieder im Frühjahr 1933, die unzähligen „Märzgefallenen“ und „Aprilveilchen“, war Ausdruck einer diffusen Aufbruchsstimmung wie einer Mitmachbereitschaft und opportunistischer Karriereerwartung, die der NSDAP insgesamt ein großes Machtpotential verschafften und sich wie eine nationale Revolution ausnahmen.
WELT: Änderte sich die Rolle der Partei mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges?
Thamer: Der Krieg bedeutete für die NSDAP die Fortsetzung ihrer „nationalsozialistischen Revolution“. Der gewaltige Parteiapparat wurde nun schrittweise für unterschiedlichste Funktionen der Betreuung und Überwachung der Gesellschaft eingesetzt. Er baute sein Netzwerk der sozialen Kontrolle immer weiter aus, was bis zur Mitwirkung bei der Judenverfolgung reichte. Zu der „Menschenführung“, die die NSDAP beanspruchte, gehörten neben Propaganda und Kontrolle der eigenen Bevölkerung und der ausländischen Arbeitskräfte auch die kriegsbedingten Einsätze bei der Hilfe für Bombengeschädigte und Evakuierte, mit der die immer unbeliebteren NS-Funktionäre, oft als „Goldfasane“ verspottet und verhasst, vergeblich versuchten, ihr Image aufzupolieren.
WELT: Am Ende im Frühjahr 1945 hatte die NSDAP mehr als sieben Millionen Mitglieder. Was sagt es über Menschen aus, dass sie Mitglieder von Hitlers Partei waren?
Thamer: Mehr noch! Bei Kriegsende war der größere Teil der deutschen Bevölkerung von irgendeiner NS-Organisation und deren Anspruch erfasst, eine nationale Volksgemeinschaft zu formieren; das bedeutete, die Mehrheit der Deutschen hatte zwölf Jahre in diesem Neben- und Ineinander von volksgemeinschaftlichem Konsens, sich verschärfender Kontrolle und Repression, verbunden mit millionenfachem Verbrechen gelebt und dieses lange auch zustimmend erlebt.
WELT: Und die Folgen?
Thamer: Das führte nach dem Zusammenbruch der Konsens- und Mobilisierungsdiktatur zu Rechtfertigungs- und Verdrängungsversuchen, aber auch zu anfänglicher politischer Apathie und schließlich zu langfristigen mentalen Folgewirkungen und autoritären Verhaltensformen. All das hat den politisch-moralischen wie den jurisdiktionellen Umgang mit dieser Vergangenheit, die nicht vergehen wollte, sehr lange belastet.
WELT: Aktuell gibt es im Bundestag und in allen Landesparlamenten wieder eine Rechtsaußenpartei. In Thüringen hat die AfD mit ihren Manövern rund um die Ministerpräsidentenwahl am 5. Februar 2020 Verachtung für demokratische Verfahren demonstriert. Ist es angemessen oder übertrieben, die NSDAP und die AfD miteinander zu vergleichen?
Thamer: Historische Vergleiche sind legitim und können auch erkenntnisfördernd sein – nicht aber einfache Gleichsetzungen. Die Ähnlichkeiten zwischen der menschenrechtsverletzenden und demokratiefeindlichen Propaganda und Agitation rechtsradikaler Parteien, von der NPD bis zur AfD, und der Hassrhetorik wie auch der Gewaltpraxis und den Mobilisierungstechniken der NSDAP sind augenfällig. Dennoch haben die demokratie- und pluralismusfeindlichen Konflikt- und Gefährdungspotenziale, die gegenwärtig die immer noch mehrheitsfähige und wehrhafte parlamentarische Demokratie herausfordern und in Wellenbewegungen die Nachkriegsgeschichte temporär erfasst haben, nicht die Dimension der Krisenjahre der Weimarer Republik zwischen 1930 und 1933. Dazu tragen auch die schrecklichen Erfahrungen der NS-Diktatur bei, die nicht vergessen werden dürfen.
Hans-Ulrich Thamer: „Die NSDAP. Von der Gründung bis zum Ende des Dritten Reiches“. (C. H. Beck, München. 127 S., 9,95 Euro)
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