Unzählig oft hat man diese Bilder gesehen: das weite Rund des Berliner Sportpalastes, dicht bestuhlt und Reihe um Reihe gefüllt mit meist uniformierten Männern und Frauen. Ein breites Podium mit drei Hakenkreuzen, dahinter ein mächtiger Parteiadler, den Kopf nach rechts gewandt, der ein weiteres Hakenkreuz im Lorbeerkranz in seinen Krallen hält. Über dem Podium ein riesiger Schriftzug: „Totaler Krieg – kürzester Krieg“.
So sah die Kulisse für die vielleicht wichtigste Rede aus, die Hitlers Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels je gehalten hat; zumindest ist sie seine bekannteste. „Ich frage euch: Wollt ihr den totalen Krieg?“, rief er am Nachmittag des 18. Februar 1943 ins Publikum, das mit frenetischem Jubel antwortete. Diese in der „Deutschen Wochenschau“ wieder und wieder gezeigten Aufnahmen haben die Vorstellung von der NS-Propaganda entscheidend geprägt.
Was aber bezweckte Goebbels mit dieser Rede eigentlich? Warum ließ er mit großem Aufwand Bilder eines schier ekstatischen Publikums generieren? Unter den Zuhörern an diesem Donnerstag saß ein damals knapp 21-jähriger Soldat namens Iring Fetscher. Einen Tag später schrieb er in sein Tagebuch: „Gestern Goebbels-Rede. Glänzende Volksrede eines einzigartigen gesteigerten Volksrausches. Zehn Fragen an das deutsche Volk in biblischer Feierlichkeit, dies mutet alles wie ein ganz großes, gewaltiges Schauspiel an, dessen Tiefe, Tragik und Bedeutung wohl kaum einer der Anwesenden verstehen mag.“
Mehr als ein halbes Jahrhundert später widmete Fetscher, inzwischen emeritierter Professor für Politikwissenschaft, der Goebbels-Rede ein eigenes Buch. Es erschien 1998 und ist weitere 20 Jahre später, obwohl längst nur noch antiquarisch zu haben, immer noch lesenswert.
Mit seiner Rede, analysierte Fetscher (1922–2014) treffend, verfolgte Goebbels vier Ziele: Er wollte erstens das Stimmungstief überwinden, das die deutsche Bevölkerung nach der Katastrophe von Stalingrad erfasst hatte. Zweitens wollte er das Schlagwort vom „totalen Krieg“ populär machen, das noch größere Kriegsanstrengungen ermöglichen sollte.
Drittens war die 109 Minuten lange Ansprache der Versuch, die neutralen Staaten und die Kriegsgegner im Westen auf die Gefahren des Bolschewismus hinzuweisen. Viertens und vor allem aber wollte Goebbels seine eigene Stellung in der NS-Führung ausbauen, denn er war zuletzt gegenüber SS-Chef Heinrich Himmler und vor allem dem seit einem Jahr amtierenden Rüstungsminister Albert Speer ins Hintertreffen geraten. Ein ähnliches Schicksal wie der formal zweite Mann des Dritten Reiches, Hermann Göring, der Hitlers Gunst verloren hatte, wollte Goebbels nicht erleiden.
Die 14.000 Teilnehmer waren für die „Kundgebung des Gaues Berlin der NSDAP“ im Sportpalast sorgfältig ausgewählt worden. Unter ihnen waren Prominente wie der Schauspieler Heinrich George, aber offenbar auch eingeweihte Claqueure und Antreiber.
Sie jubelten zum Beispiel, als Goebbels in der vierten seiner zehn rhetorischen Fragen rief: „ Wollt ihr den totalen Krieg? Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt noch vorstellen können?“
Erich Ludendorff (1865-1937) – Stationen
Aber was bedeutete „totaler Krieg“ eigentlich? In Deutschland erstmals nennenswert bekannt gemacht hatte den Gedanken im Ersten Weltkrieg Erich Ludendorff, 1916 bis 1918 als Erster Generalquartiermeister der Obersten Heeresleitung der eigentlich starke Mann des Kaiserreichs. Er meinte damit die Mobilisierung der letzten Reserven. Schon nicht mehr breit beachtet wurde dagegen sein unter diesem Titel erschienenes Buch von 1935 – längst war Ludendorff als Sektierer aus den Zirkeln der Macht ausgeschlossen worden.
Goebbels aber erkannte die Kraft des Begriffs und füllte ihn mit zusätzlichen Inhalten. Seiner Vorstellung nach sollte im „totalen Krieg“ die NSDAP alle noch vorhandenen Ressourcen mobilisieren; zwischen Heimat und Front würde kein Unterschied mehr gemacht. Jeder irgendwie in der Heimat ersetzbare Mann sollte an die Front geschickt, die Wirtschaft noch stärker als bisher auf Rüstungsproduktion umgestellt und schließlich durch noch einmal verstärkte Propaganda jeder Defätismus bekämpft, gegebenenfalls brutal unterdrückt werden.
Die vollkommene Mobilisierung der Gesellschaft würde der NSDAP, die seit 1933 auf Reichsebene gegenüber der Wehrmacht, Staatsverwaltung und SS immer mehr an Einfluss verloren hatte, neue Bedeutung verschaffen. „Ich habe unbegrenztes Vertrauen zur Partei“, diktierte Goebbels, der auch Gauleiter der Berliner NSDAP war, seinem Sekretär. Sie allein besitze die „nötige Initiative und Improvisationsgabe“, um die letzten Kraftreserven des deutschen Volkes auszuschöpfen.
Goebbels - Propagandist Hitlers und in eigener Sache
Die wesentliche Parole der fortan dominierenden Propaganda im Dritten Reich hatte schon im Sportpalast über dem Rednerpult für Goebbels gehangen: „Totaler Krieg – kürzester Krieg“. Aber verfing die Propagandabotschaft? Fetscher hatte daran Zweifel – mit guten Argumenten: „Ebenso wenig wie die Stimmung der Bevölkerung dauerhaft durch die Rede von Goebbels gebessert werden konnte, gelang es, die Arbeitskräfte für die Rüstungswirtschaft und zusätzliche Soldaten für das Heer in der gewünschten Zahl zu rekrutieren.“ Tatsächlich weisen die Kennzahlen etwa der Rüstungswirtschaft nicht darauf hin, dass der 18. Februar 1943 eine wesentliche Zäsur gewesen wäre.
Das erkannte übrigens auch Goebbels selbst: 17 Monate später, am 18. Juli 1944, schickte er Hitler eine Denkschrift, in der er eine abermals verstärkte Mobilisierung anmahnte. Er hatte erkannt, dass Propaganda allein nicht ausreichte.
Eine Woche später ernannte Hitler seinen Propagandaminister zusätzlich zum „Reichsbevollmächtigten für den totalen Kriegseinsatz“. Diese Beförderung mehrte Goebbels’ Einfluss noch einmal und machte ihn zum innenpolitisch mächtigsten Mann; das hatte er sich schon länger gewünscht. Nun nahm er sich vor, faktisch die Regierung zu übernehmen: „Ich würde einen Kreis von etwa zehn Männern zusammenfassen, die alle kapitale Figuren sind, und mit denen würde ich dann regieren, d. h. eine innerpolitische Führung aufrichten“, diktierte er seinem Sekretär.
Im Chaos der letzten rund neun Kriegsmonate konnte er seinen Plan aber nicht mehr wirksam umsetzen. Der „totale Krieg“, der vielleicht so etwas wie ein – allerdings ziemlich lauter – „stiller Staatsstreich“ sein sollte, spülte Joseph Goebbels nicht an die zweite Stelle des Dritten Reiches. Er blieb auf derselben Ebene wie Speer, Himmler und der Leiter der Parteikanzlei Martin Bormann. Nur am Ende, nach Hitlers Selbstmord, beerbte er diesen als Reichskanzler für einen ganzen Tag.
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