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Literatur

Die Nazis, die Hitler den Rücken kehrten

Leitender Redakteur Geschichte
Parteiaustritte im Einparteienstaat: Ein Studienband von Jürgen W. Falter erschließt wichtige Daten zur NSDAP

Niemals hat eine Partei in Deutschland mehr Mitglieder gehabt als die NSDAP: Fast 8,8 Millionen Menschen über 17 Jahre gehörten ihr Ende 1944 an. Das war ungefähr jeder achte damalige deutsche Staatsbürger. Und da für einen Eintritt in die NSDAP in jedem Fall, selbst im März 1945 noch, ein eigenhändig unterschriebener Antrag nötig war und kollektive Eintritte ausdrücklich ausgeschlossen waren, allen entsprechenden Behauptungen nach 1945 zum Trotz, heißt das: Jeder achte Deutsche war aus Überzeugung oder einem anderen Motiv, jedenfalls aus eigener Entscheidung zahlender Anhänger der Hitler-Bewegung.

Dennoch wissen wir wenig über die NSDAP. Obwohl es eine unüberschaubare Fülle von Literatur zu nahezu allen Aspekten der NS-Zeit gibt, ist ihre prägende Partei merkwürdig unterbelichtet. Es gibt inzwischen fast hundert seriöse Hitler-Biografien und buchstäblich Tausende Regionalstudien höchst unterschiedlicher Qualität, meistens Doktorarbeiten. Aber keine Gesamtdarstellung – die orthodox-marxistischen Veröffentlichungen des kürzlich verstorbenen früheren DDR-Historikers Kurt Pätzold kann man guten Gewissens ignorieren.

Wie wichtig war die NSDAP für den Aufstieg Hitlers? Was machte die Partei überhaupt anziehend? Wie fühlten sich ihre Mitglieder? Und wer trat ihr wann bei? Das alles sind Fragen, die trotz (oder: wegen?) enorm umfangreich erhaltenen Quellenmaterials bislang nicht beantwortet sind. Einen wesentlichen Fortschritt bringt jetzt ein Sammelband, den der Mainzer Emeritus Jürgen W. Falter herausgegeben hat.

Die Erforschung der NSDAP ist das Lebensthema des Politologen. Schon in den 70er-Jahren untersuchte er mit Methoden der quantitativen Sozialforschung die Frage, wer denn eigentlich 1928 bis 1933 die NSDAP wählte; seine 1992 erschiene Darstellung „Hitlers Wähler“ gilt zu Recht als Standardwerk.

Seit einigen Jahren hat er in einem aufwendigen Projekt zusammen mit zahlreichen Mitarbeitern Studien zu den Mitgliedern der NSDAP betrieben; als erstes Ergebnis umfasst der Band „Junge Kämpfer, alte Opportunisten“ 19 Aufsätze von elf Forschern, die überwiegend auf einer nach den Maßstäben der Sozialwissenschaft repräsentativen Stichprobe von rund 50.000 der insgesamt 8,8 Millionen beruhen.

Die systematische Auswertung dieser in einer Datenbank verfassten Stichprobe erlaubt teilweise völlig neue, teilweise erstmals faktisch abgesicherte Einsichten über die NSDAP. Zum Beispiel über die Frage, wie viele Nazis denn der Hitler-Partei im Laufe der Zeit den Rücken gekehrt haben.

Darüber wusste man bisher nur einzelne Details. Aus einem Vorläuferprojekt in deutsch-amerikanischer Kooperation (damals unterstanden die erhaltenen Teile der NSDAP-Mitgliederkartei noch dem US-Außenministerium und lagerten unter speziellen Sicherheitsbestimmungen im Berlin Document Center) war etwa bekannt, dass die Parteigeschäftsstelle zwischen 1925 und 1930 für die Ortsgruppe München zwar 4832 formelle Eintritte verzeichnete, jedoch auch 1346 Austritte.

Fast jedes dritte dieser frühen Münchner Mitglieder schied innerhalb weniger Monate oder Jahre wieder aus; Todesfälle und Umzüge ins Gebiet anderer Ortsgruppen kamen noch hinzu. Offenbar war die Bindungskraft der NSDAP zumindest in der Phase vor ihrem Erdrutschsieg im September 1930 noch nicht allzu hoch.

Der Aufsatz des Falter-Schülers Jonas Meßner in dem Sammelband aber erweitert das gesicherte Wissen über „Austritte aus der NSDAP“ außerordentlich. Insgesamt, so die Hochrechnung der Stichprobe, traten eine Dreiviertelmillion Mitglieder aus der Hitler-Partei wieder aus. Aber nur jeder Dritte von ihnen trat bis Ende 1932 aus der Partei aus; zwei Drittel dagegen nach der Machtübernahme.

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Das ist eine wirklich überraschende Einsicht: Auch im schnell zum Einparteienstaat und dann zur totalen, wenngleich bis 1942 überaus populären Diktatur umgekrempelten Deutschland gab es rund eine halbe Million Menschen, die Hitler offensiv den Rücken kehrten. In den elf Monaten nach der Machtübernahme am 30. Januar 1933 waren es rund 84.000, aber dann gingen die Zahlen nach oben: 126.600 im Jahr 1934, immerhin noch 116.900 1935. Danach halbierte sich die Zahl der Austritte praktisch, auf knapp 61.000 im Olympiajahr. 41.000 Mitglieder schieden 1937 aus, nicht einmal 19.000 im folgenden Jahr, auf dem Höhepunkt von Hitlers Macht vor dem Krieg.

1939 stieg dann die Zahl der Austritte noch einmal an, auf 28.000, brach dann jedoch während des Krieges ein, von 8450 im Jahr 1940 bis auf 3481 im gesamten Jahr nach Stalingrad. Sogar 1944 traten noch 5319 Mitglieder aus der Hitler-Partei aus – das sind mehr, als Deutsche wegen Widerstands gegen das Regime im eigentlichen Sinne in dieser Zeit inhaftiert waren.

Allerdings war der Saldo der Mitgliederentwicklung der NSDAP nur ein einziges Mal negativ: Nach der Aufnahmesperre vom 1. Mai 1933, die den Eintritt von noch mehr Konjunkturgewinnern und Opportunisten unterbinden sollte, traten 1934 mit Ausnahmegenehmigungen nur 27.953 Deutsche der NSDAP bei. Angesichts von 126.600 Austritten im selben Jahr schrumpfte die NSDAP also einmal sogar etwas – von 2,635 auf 2,55 Millionen Mitglieder. Wiedereintritte bereits früher ausgetretener Mitglieder begrenzten den Nettoverlust auf etwa 80.000 Deutsche.

Diese nackten Zahlen, die Meßner in Falters Band präsentiert, bedürfen noch weitergehender Interpretation. Zu den Motiven der Parteiaustritte etwa kann man noch keine belastbaren Aussagen treffen. Ob man wie Meßner aus der schieren Statistik schließen kann, wie viele überzeugte Nationalsozialisten es nun in Deutschland gab, ist ebenfalls zweifelhaft.

Sicherlich aber legen die Untersuchungen des Forscherteams ein neues Fundament für die quantitative Beschäftigung mit der NSDAP. Und eröffnen damit ein überaus spannendes, bislang nicht untersuchbares Feld. Weitere Veröffentlichungen sind für die kommenden Jahre angekündigt.

Jürgen W. Falter (Hrsg.): Junge Kämpfer, alte Opportunisten. Die Mitglieder der NSDAP 1919 bis 1945. Campus, Frankfurt/M. 499 S., 39,95 €.

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