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Geschichte Nationalsozialismus

Wird der Einfluss des Redners Hitler überschätzt?

Die rhetorische Kraft des NSDAP-Chefs gilt als wesentlicher Faktor für den Aufstieg des Nationalsozialismus. Zwei Politologen stellen diese Gewissheit jetzt infrage. Doch ihre Studie überzeugt nicht.
Leitender Redakteur Geschichte

Zumindest Unterhaltungswert hat die These. Die verbreitete Vorstellung, Hitler gehöre zu den einflussreichsten Rednern der Weltgeschichte, müsse revidiert werden. Das meinen zwei Politikwissenschaftler gestützt auf umfangreiche Datenanalysen. Jetzt haben Peter Selb von der Universität Konstanz und Simon Munzert von der Berliner Hertie School of Governance in Berlin ihre Schlüsse veröffentlicht, die demnächst auch in der angesehenen Fachzeitschrift „American Political Science Review“ erscheinen sollen.

Selb und Munzert haben für die fünf Reichstagswahlen zwischen 1928 und 1933 sowie für die beiden Wahlgänge zur Besetzung des Amtes des Reichspräsidenten 1932 Wahlergebnisse aus mehreren Tausend Gemeinden verglichen. Sie interessierte, ob in den Orten, in denen Hitler zuvor bei Wahlkampfauftritten geredet hatte, eine signifikant andere Entwicklung der Stimmen für die NSDAP feststellbar ist als in Orten, in denen er nicht gesprochen hatte.

German Chancellor Adolf Hitler (1889 - 1945) addresses members of the new National Socialist German Students' League in Berlin, Germany, 1930. (Photo by Keystone/Hulton Archive/Getty Images) Getty ImagesGetty Images
Hitler spricht während des Uniformverbotes für die SA am 3. Dezember 1930 in Berlin. Statt Braun- werden weiße Hemden getragen
Quelle: Getty Images

Vor den sieben Abstimmungen redete Hitler insgesamt 455-mal öffentlich; hinzu kamen 111 Auftritte in geschlossenen Veranstaltungen in dieser Zeit, die sich nur an Parteimitglieder richteten. Nach extrem komplizierten, für Laien nicht nachvollziehbaren Berechnungen kommen Selb und Munzert zu dem Ergebnis, dass Hitlers persönliche Präsenz und damit seine Rhetorik nur eine geringe messbare Auswirkung gehabt habe.

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„Wir sind überrascht, wie marginal der Effekt von Hitlers Wahlauftritten war, obwohl ihm von Zeitzeugen und Historikern gleichermaßen überragende rhetorische Fähigkeiten attestiert werden“, sagen die beiden Wahlforscher. Die Wahlkampfauftritte Hitlers hätten der NSDAP nur einen geringen Stimmenzuwachs beschert. Das Gleiche gelte auch für Joseph Goebbels, den wichtigsten und wortmächtigsten Propagandisten neben Hitler.

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Allerdings spricht mehr dafür, dass die Datenanalyse der beiden Wissenschaftler schlicht von einer falschen Prämisse ausgeht und deshalb zu irreführenden Ergebnissen führt. Denn die Annahme, zwischen Hitlers Redeauftritten und den amtlich festgestellten lokalen Wahlergebnissen gebe es eine direkte Verbindung, ist unzutreffend.

German Nazi politician Joseph Goebbels (1897 - 1945) listens to Adolf Hitler (1889 - 1945) making his election speech. (Photo by Keystone/Getty Images) Getty ImagesGetty Images
Hitler während seiner Rede im Berliner Lustgarten am 4. April 1932
Quelle: Getty Images

In Wirklichkeit nämlich, das zeigen neue Forschungen zur Geschichte der NSDAP und speziell zu Nationalsozialistinnen, kam den Reden von Hitler wie von Goebbels eine ganz andere Funktion zu: Sie wirkten mobilisierend auf bereits überzeugte Anhänger wie auf lediglich interessierte Menschen, die oft von weit außerhalb zum eigentlichen Auftrittsort anreisten.

Nach der jeweiligen Hitler-Rede kehrten sie in ihre Heimat zurück, um dort Werbung für die NSDAP zu machen. Das ist in einer Fülle von individuellen Zeugnissen ganz normaler Hitler-Anhänger nachzuweisen und ebenso in anderen Quellen, etwa erhalten gebliebenen Akten von Gau- und Kreisleitungen sowie sogar Ortsgruppen, außerdem natürlich in der NS-Presse und in dem Nationalsozialismus gegenüber kritisch eingestellten Zeitungen

Mit quantitativen Untersuchungen, die Wahlergebnisse in Orten mit Hitler-Auftritten und ohne sie vergleicht, lässt sich deshalb gar nichts feststellen. Vielmehr zeigt sich, dass Datenanalysen nur dann sinnvoll sind, wenn zugleich die historischen Rahmenbedingungen berücksichtigt werden. Wie man das besser macht als Selb und Munzert, führt der Parteienforscher Jürgen W. Falter vor, dessen Studien zur NSDAP tatsächlich immer wieder Neuland betreten.

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Quelle: Salzgeber & Company Medien

Die wichtigsten Quellen, die man heranziehen muss, um über die NSDAP als dauernd laufende Wahlkampfmaschinerie Klarheit zu gewinnen, sind die Berichte der Abel-Sammlung. Der polnischstämmige US-Sozialforscher Theodore Fred Abel (1896–1988) hatte sie 1934 mithilfe eines Preisausschreibens in Deutschland erhoben. Von ursprünglich 683 Selbstzeugnissen sogenannter Alter Kämpfer der NSDAP, die also bereits vor 1930 der Partei beigetreten waren oder zumindest mit ihr sympathisiert hatten, sind 581 erhalten; sie liegen in der Hoover Institution in Stanford (US-Bundesstaat Kalifornien), sind aber seit Januar 2017 auch im Internet abrufbar.

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Obwohl Selb und Munzert die 1965 erschienene Neuauflage von Abels Buch von 1938 über die NSDAP in ihrem Aufsatz zitieren, werten sie die dahinter stehenden Berichte nicht aus. Ein Fehler, denn bereits eine oberflächliche Durchsicht zeigt, wie enorm das Mobilisierungspotenzial von Hitlers Reden war. Im September wird der Berliner NS-Experte Wieland Giebel zum ersten Mal eine größere Auswahl der Abel-Berichte als Buch erscheinen lassen; bisher gab es nur die Edition der insgesamt 36 Beiträge von Nationalsozialistinnen zu dieser Sammlung.

Man kann darin zahlreiche eindeutige Zitate wie die folgenden lesen: „Jede Versammlung der Nationalsozialisten war ein inneres Erlebnis, ein Gottesdienst manchmal“; das schrieb der 1907 geborene Gustav Kohlenberg. Die elf Jahre ältere Helene Radtke befand: „Wer einmal Adolf Hitler gehört hat, der war ihm ergeben.“ Und ein gewisser Paul Moschel notierte: „Ich glaube, dass unser Führer eine Kraft ausstrahlt, die uns alle stark macht.“

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Nach dem Selbstmord Adolf Hitlers und seiner Frau am 30. April 1945 begann die Suche nach den sterblichen Überresten. Die Körper wurden verbrannt und insgesamt neun Mal exhumiert.

Ein weitere Lücke in Selbs und Munzerts Aufsatz ist, dass sie zur Rekonstruktion von Hitlers Kalender auf eine obskure Website und eine fehlerhafte Sammlung von 2012 zurückgreifen. Dabei liegt seit 2016 das vollständige und oft minutiöse Itinerar Hitlers vor, zusammengestellt in mehr als 20 Jahren Arbeit von dem Coburger Privatforscher Harald Sandner. Schon unmittelbar nach Erscheinen wurde dieses vierbändige Werk, das für wirklich jeden Tag von Hitlers Leben soweit bekannt seine Aufenthaltsorte und – ab Beginn seiner politischen Tätigkeit – seine Aktivitäten auflistet, in den wichtigsten zeitgeschichtlichen Bibliotheken zur Verfügung gestellt.

Natürlich gab es auch viele Menschen, die seine wirren Ansprachen überhaupt nicht erreichten und die in Hitler deshalb nur einen „Schreihals“ sahen. Doch entscheidend waren nicht sie, sondern jene, die sich faszinieren ließen und zu geradezu gläubigen Anhängern des Nationalsozialismus wurden.

Vermutlich ist der sozialwissenschaftliche Teil von Selbs und Munzerts Forschung überaus akkurat. Nur erweist sich ihr Ansatz eben als ungeeignet, die Frage zu beantworten, die sie gestellt haben: Welche Bedeutung hatte Hitlers Rhetorik für den Aufstieg der NSDAP?

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Nachdem der Freistaat Bayern eine Wiederveröffentlichung von Hitlers „Mein Kampf“ lange verhindert hatte, erschien im Januar 2016 eine kritische Edition des Instituts für Zeitgeschichte. WELT-Geschichtsredakteur Sven-Felix Kellerhoff kennt die Abgründe der antisemitischen Hetzschrift.

Quelle: Die Welt

„Die mobilisierende Wirkung von Hitlers Reden ist enorm“, sagt hingegen Wieland Giebel: „Man kann sie gar nicht hoch genug einschätzen. Seit seinen ersten Reden in München war er sich der suggestiven Kraft seiner Auftritte bewusst.“

Tatsächlich kreist der gesamte Aufstieg der Nationalsozialisten um Hitlers Reden, um die weitaus häufigeren Auftritte von Parteirednern, die dem „Chef“ nacheiferten, und um die hemmungslose Propaganda in Zeitungen, Flugblättern, Plakaten und Werbezettelchen, die sich an der Rücksichtslosigkeit von Hitlers Sprache orientierten. Mit dem Vergleich von Wahlkampfauftritten und lokalen Wahlergebnissen kann man dieses Phänomen nicht ergründen.

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Wieland Giebel (Hrsg.): „Warum ich Nazi wurde“ (Berlin Story Verlag, 928 S., 49,95 Euro, erscheint Anfang September)

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