Wer verloren hat, kann aufgeben – oder weitermachen. Österreichs Nationalsozialisten hatten Ende Juli 1934 eine herbe Niederlage erlitten, als ihr Putschversuch gegen den autoritären Wiener Bundeskanzler Engelberg Dollfuß gescheitert war. Doch sie hielten trotz teilweise großen juristischen Drucks an ihrer Maxime fest: „Heim ins Reich!“
Dabei bekamen sie Unterstützung aus dem benachbarten Dritten Reich. Reichskanzler Adolf Hitler gelang es, den Nachfolger des ermordeten Dollfuß’ im Bundeskanzleramt, Kurt von Schuschnigg, international immer stärker zu isolieren. Im Juliabkommen von 1936 sagte die Reichsregierung zu, Österreichs Souveränität anzuerkennen und sich nicht in dessen innere Angelegenheiten einzumischen. Das galt ausdrücklich auch für die „Frage des österreichischen Nationalsozialismus“.
Im Gegenzug verpflichtete sich die Regierung in Wien, einsitzende Nationalsozialisten zu amnestieren, sich außenpolitisch an das Deutsche Reich anzulehnen und zwei Vertrauenspersonen der nationalen Opposition in die Regierung aufzunehmen. Nach dem Abkommen, dem Schuschnigg unter erheblichem politischem Druck zugestimmt hatte, sank der Fahndungsdruck auf österreichische Hitler-Anhänger deutlich.
Die Annexion Österreichs war nun nur noch eine Frage der Zeit – doch selbst das ging manchen zu langsam. Zum Beispiel Leopold Tavs, dem Wiener Gauleiter der immer noch verbotenen NSDAP. Ende Januar 1938 durchsuchte die Polizei sein Haus und stellte dabei Pläne sicher, die dem Dritten Reich einen Vorwand liefern sollten, in Österreich einzugreifen – unter anderem Anschläge auf deutsche Diplomaten in Wien.
Durch die Entdeckung dieser Beweise entstanden zwischen Wien und Berlin heftige Spannungen. Um sie auszuräumen, reiste Schuschnigg zwei Wochen später zu einem Treffen mit Hitler nach Berchtesgaden. Doch der Reichskanzler hatte nicht vor, einen Ausgleich zu erzielen; er wollte diktieren. Nach einem zweistündigen Vieraugengespräch legte er Schuschnigg den Entwurf eines Abkommens vor, das die österreichischen Nationalsozialisten zur entscheidenden Partei machen würde.
„Verhandelt wird nicht“, erklärte der Diktator am 14. Februar 1938 dazu, „ich ändere keinen Beistrich. Sie haben entweder zu unterschreiben, oder alles Weitere ist zwecklos, und wir sind zu keinem Ergebnis gekommen. Ich werde dann im Laufe der Nacht meine Entschlüsse zu fassen haben.“
Schuschnigg beugte sich diesem Ultimatum, unterschrieb und kehrte nach Wien zurück. Doch noch glaubte er, eine letzte Chance zu haben: eine Volksbefragung über Österreichs Unabhängigkeit. Er kündigte sie am 9. März 1938 an, einem Mittwoch – für den folgenden Sonntag, also den 13. März 1938. Zwei Tage später schlugen gleichzeitig die deutsche Regierung und die österreichische NSDAP zu.
Zuerst Hermann Göring, der zweite Mann des Dritten Reiches und als Chef der deutschen Luftwaffe 1938 ein Mann mit hohem Drohpotenzial. Per Telefon übermittelte er klare Erwartungen nach Wien: Schuschnigg müsse die Volksabstimmung wieder absagen, dann zurücktreten und dem führenden österreichischen Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart Platz machen. Doch noch zierte sich der erst 40-jährige Schuschnigg.
Daraufhin schufen österreichische Nationalsozialisten Tatsachen: Ab dem frühen Nachmittag des 11. März 1938 demonstrierten sie in vielen Städten und Gemeinden. Mancherorts besetzten Hitler-Anhänger Rathäuser und zogen Hakenkreuzfahnen auf. In Wien strömten Hunderte vor das und ins Bundeskanzleramt.
Am späten Nachmittag trat Schuschnigg zurück; zuvor hatte er noch das geplante Plebiszit abgesagt. In Graz feierten bis zu 60.000 Menschen das Ende des unabhängigen Österreichs, in Wien stauten sich auf dem Ring Autokolonnen. Vielfach standen NSDAP-Anhänger in improvisierten Uniformen auf den Trittbrettern der Wagen, reckten den rechten Arm zum Hitler-Gruß und skandierten: „Nieder mit den Juden! Heil Hitler! Sieg Heil! Juda verrecke!“ oder „Ein Volk, ein Reich, ein Führer, ein Sieg!“
Zehntausende antinationalsozialistisch eingestellte Wiener wussten: Für sie war es höchste Zeit, sich abzusetzen. Die Straßen zur tschechoslowakischen Grenze waren fast genauso schnell verstopft wie die Bahnhöfe in den Städten. Ihre Hallen quollen noch am Abend des Freitags über vor Menschen, die sich in Sicherheit bringen wollten.
Es war zwar wohl nicht die Mehrheit der Österreicher, die sich umgehend als begeisterte Anhänger eines „Anschlusses“ an Deutschland offenbarten, aber doch eine große und vor allem rücksichtslose Minderheit.
Bald erschienen entlang der Fluchtrouten zur Grenze der CSR und auf den Bahnhöfen SA-Männer. Sie maßten sich an, die Fluchtwilligen zu kontrollieren. Manche wurden sofort verschleppt, andere „nur“ durchsucht und beraubt. In wenigen Tagen nahmen Nationalsozialisten auf diese Weise mehrere Millionen Schilling ein.
Doch selbst die meisten der NS-Gegner, die es bis zur Grenze schafften, hatten kein Glück: Sie wurden von tschechoslowakischen Zöllnern zurückgewiesen, weil sie keine gültigen Einreisevisa hatten. Viele kehrten nach Wien zurück, andere zogen es vor, bei Freunden und Bekannten in der Provinz abzutauchen. Sie hofften, hier nicht aufzufallen.
Ein Irrtum: Weil die österreichische NSDAP bis in die kleinsten Dörfer Anhänger hatte, die sich nun mächtig führten, gab es reihenweise Denunziationen. Binnen weniger Tage wurden rund 70.000 Hitler-Gegner verschleppt, eingesperrt, gedemütigt und vielfach gequält. „Ausmaß und Brutalität des NS-Terrors in Österreich übertrafen die Verhältnisse im Deutschen Reich bei Weitem“, urteilte der Wiener Historiker Gustav Spann.
Manche wurden auch sofort ermordet, etwa Wilhelm von Ketteler. Der Diplomat und Sekretär von Hitlers reaktionärem Bündnispartner Franz von Papen, seit 1934 als Botschafter nach Wien abgeschoben, verschwand am 12. März 1938 zunächst spurlos. Man fand seine Leiche am 25. April flussabwärts in der Donau. Er war betäubt und ertränkt worden. In seinem Blut fand sich so viel Chloroform, dass ein Selbstmord auszuschließen war.
In den Städten Österreichs dominierte die NSDAP fast nach Belieben, auf dem Land war es kaum anders. Als am Morgen des 12. März 1938 kurzfristig alarmierte Wehrmachtseinheiten einmarschierten, standen an den Straßenrändern unzählige Menschen und jubelten. So stark wirkten die österreichischen Nationalsozialisten, dass sich so gut wie niemand traute, eine andere Haltung öffentlich zu zeigen.
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