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Geschichte Nationalsozialismus

Sudetendeutsche lebten in Demokratie – und wählten Hitler

Fast zwei Drittel der türkischen Wähler in Deutschland stimmten für Erdogans Plan – obwohl dieser die Demokratie in ihrer Heimat weiter zu beschneiden droht. Der Fall ähnelt in mancher Hinsicht einer Wahl im Jahr 1935.
Leitender Redakteur Geschichte
Für Hitler auf die Straße: Aufmarsch von Anhängern der Sudetendeutschen Partei im September 1938 Für Hitler auf die Straße: Aufmarsch von Anhängern der Sudetendeutschen Partei im September 1938
Für Hitler auf die Straße: Aufmarsch von Anhängern der Sudetendeutschen Partei im September 1938
Quelle: picture-alliance / akg-images

Mitunter treibt die Demokratie seltsame Blüten. Da stimmen zum Beispiel zwei Drittel der Wähler faktisch für einen ausländischen Diktator, der in seinem Land die Opposition ausgeschaltet und alle Medien gleichgeschaltet hat. Und das, obwohl sie selbst in einem funktionierenden Rechtsstaat leben und keinen Druck der zuständigen Regierung zu fürchten haben.

Gemeint ist nicht der Ausgang des Referendums über eine neue Verfassung für die Türkei, der nach offiziellen Angaben 63 Prozent der türkischen Wähler in Deutschland zustimmten. Vielmehr geht es um die Parlamentswahl in der Tschechoslowakischen Republik (CSR) am 19. Mai 1935. 68 Prozent der Sudetendeutschen, also der kulturell deutsch geprägten Bewohner vor allem der tschechischen Grenzregionen zu Deutschland und Österreich, stimmten dabei für die Sudetendeutsche Partei (SDP) von Konrad Henlein.

Die SDP war im Wesentlichen eine Auslandsorganisation von Adolf Hitlers NSDAP: Sie wurde indirekt vom deutschen Staat finanziert, über den Volksbund für das Deutschtum im Ausland. Das Interesse Hitlers war die Destabilisierung der tschechoslowakischen Republik, die nach seiner Machtübernahme 1933 viele Emigranten aufgenommen hatte.

Konrad Henlein (M.) 1939 in Prag. Von Adolf Hitler wurde er im Oktober des Vorjahres zum Gauleiter des NSDAP-Gaus Sudetenland ernannt
Konrad Henlein (M.) 1939 in Prag. Von Adolf Hitler wurde er im Oktober des Vorjahres zum Gauleiter des NSDAP-Gaus Sudetenland ernannt
Quelle: picture alliance / IMAGNO/Austri

Die Sudetendeutschen lebten als Minderheit in einem ethnisch zersplitterten Land. Aber gleichwohl war die CSR ohne Zweifel ein demokratischer Rechtsstaat mit einer politischen Opposition, funktionierenden Medien und unabhängigen Gerichten.

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Auf der anderen Seite der Grenze, in Deutschland, gab es schon 1935 nichts mehr davon: Die „nationalsozialistische Revolution“ hatte nach dem Brand im Reichstagsgebäude am Abend des 27. Februar 1933, mit dem die Nazis nichts zu tun gehabt hatten, den sie aber virtuos ausnutzten, die scheinbar stabilen Stützen der Weimarer Republik hinweggefegt: Rundfunk und Zeitungen wurden unter das Kommando von Joseph Goebbels gezwungen, die Gerichte in Rekordtempo auf Regierungslinie gebracht, die Opposition vertrieben oder eingesperrt.

All das wussten die wahlberechtigten Sudetendeutschen – und sie stimmten 1935 trotzdem zu zwei Dritteln für die SDP. Die sudetendeutschen Sozialdemokraten erreichten gerade einmal 17 Prozent, die Christlich-Konservativen nicht einmal zehn Prozent. Warum?

Der „starke Mann“ Hitler kam bei Sudetendeutschen an

Ein entscheidender Grund war die massive Propaganda, die Henleins SDP mit Unterstützung aus Deutschland betrieb. Kein Partei konnte annähernd so viele Kundgebungen veranstalten, vergleichbar viele Flugblätter und Broschüren verbreiten. Immer war der Tenor aggressiv, gerichtet gegen die tschechische Bevölkerungsmehrheit in der CSR, der systematische Unterdrückung der deutschen Minderheit vorgeworfen wurde.

Ähnlich wichtig war die Stimmung, die aus Deutschland hinüberschwappte. Der konfrontative Ton, den Hitler gegenüber fast allen Nachbarstaaten anschlug, brachte ihm Zustimmung: Endlich gab es einen „starker Mann“, der sich dem Klein-Klein des Völkerbundes und seiner komplizierten Regularien schlicht verweigerte. Der einfach ohne Rücksicht auf Verluste polemisierte und Verträge ignorierte. Der den Staat nach seinen Vorstellung umbaute – und damit offenbar Erfolg hatte.

Drittens spielte eine Rolle, dass sich die Lage der sudetendeutschen Minderheit in den vorangegangenen Jahren tatsächlich verschlechtert hatte. Die ländlich geprägten Regionen, in denen die meisten Sudetendeutschen lebten, hatten sich von der Weltwirtschaftskrise schlechter erholt als die ethnisch tschechischen und slowakischen Landesteile, in denen es moderne Industrien gab, etwa die großen Skoda-Werke oder den Maschinenbauer CKD.

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Die Folge waren ökonomische Sorgen der Sudetendeutschen: Von den durchschnittlich 846.000 Arbeitslosen in der CSR 1936 gehörten 535.000 zur deutschen Minderheit. Die Integration der Minderheit in den Staatsapparat war rückläufig. Bis zur Gründung der CSR am Ende des Ersten Weltkrieges war der Staatsapparat der damals zur Doppelmonarchie Österreich-Ungarn gehörenden Länder Böhmen und Mähren eindeutig von der deutschsprachigen Minderheit dominiert worden.

Ab 1919 gingen bis zu 60.000 Stellen im öffentlichen Dienst an tschechischsprachige Beamte. Im Rechtswesen und der öffentlichen Verwaltung hatten die Sudetendeutschen einen Anteil weit unter ihrer Quote in der Bevölkerung, und selbst im Erziehungswesen wurde dieser Schnitt nur knapp erreicht.

Ende der 20er-Jahre begann sich diese Verschiebung auszugleichen. Doch die politische Radikalisierung in Deutschland seit dem Erdrutschsieg der NSDAP 1930 mit einer Verachtfachung ihrer Stimmen führte zu einem Kurswechsel: Das Ungleichgewicht vergrößerte sich nun wieder.

Deutsche Konflikte auf tschechischem Territorium

Ab 1933 trugen aus Deutschland geflüchtete und vertriebene NS-Gegner die Konflikte aus ihrer Heimat in die CSR. Vielen Tschechen missfiel, dass ihr Land zunehmend als Basis der deutschen Opposition wahrgenommen wurde; sie wollten mit diesen Konflikten nicht zu tun haben.

Das war die Gemengelage, die am 19. Mai 1935 zu dem großen Wahlerfolg der SDP führte. Doch das genügte Konrad Henlein und seinem Mentor Hitler nicht. Getreu dem in „Mein Kampf“ gleich auf der ersten Textseite formulierten Anspruch „Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich“ verschärfte das Dritte Reich seine antitschechoslowakische Politik weiter.

Hitler wollte im Herbst 1938 deshalb sogar einen Krieg vom Zaun brechen, die Panzer der Wehrmacht standen bereit. Doch die Großmächte Frankreich und Großbritannien knickten ein und gestanden im Münchner Abkommen zu, dass die sudetendeutschen Gebiete dem Dritten Reich zugeschlagen wurden. Doch das befriedigte den Appetit des Diktators Hitler nicht, sondern bestärkte ihn nur in seinem konfrontativen Kurs. Die Folgen sind bekannt.

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