Was treibt die Menschen in Europa um? Was sind ihre größten Sorgen, ihre dringendsten Wünsche an die EU? Das wird sich am kommenden Wochenende zeigen, wenn 370 Millionen Menschen zur Europawahl aufgerufen sind. Einen ersten Eindruck vermittelt vorab eine Erhebung des deutschen Thinktanks dpart. Mehr als 10.000 Menschen wurden in acht EU-Staaten gefragt: in Deutschland, Polen, Frankreich, Italien, Schweden, Griechenland, Rumänien und Lettland. Die Daten liegen ZEIT ONLINE exklusiv vor. Sie zeigen: Die Stimmung und Sorgen der Menschen sind länderübergreifend erstaunlich ähnlich. Vier Erkenntnisse lassen sich ableiten.  

Erkenntnis eins: Die Stimmung ist schlecht

Nach der aktuellen Gesamtlage im jeweiligen Land gefragt, überwiegt in allen acht EU-Staaten der Pessimismus. "Sehr negativ" oder zumindest "negativ" fällt die Bewertung insbesondere in den Ländern am Mittelmeer aus, in Griechenland, Frankreich und Italien. Doch auch in Deutschland und Schweden ist fast jeder Zweite der Ansicht, dass die jeweilige politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Lage nicht gut ist.

Bemerkenswert ist, dass die Stimmung in den mittel- und osteuropäischen Ländern deutlich positiver ist. "Die Menschen im Osten Europas, aber auch in Griechenland sind Krisen gewohnt", sagt Tobias Spöri von dpart. Zudem sei das Vertrauen in die Politik seit jeher gering, man erwarte daher auch weniger. "In Westeuropa herrscht dagegen schon lange ein hohes Wohlstandsniveau, entsprechen haben die Leute höhere Ansprüche und mehr Angst, etwas zu verlieren."

Die Befragten lassen sich auch nach ihrer Parteipräferenz auswerten. In Deutschland überwiegt die Unzufriedenheit vor allem bei Anhängerinnen und Anhängern der AfD und des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Aber auch ein großer Teil der Nichtwähler und Unentschlossenen teilt den Pessimismus.

Zum überwiegenden europäischen Pessimismus kommt hinzu, dass viele Befragte nicht nur die wirtschaftliche Lage ihres Landes, sondern auch ihre eigene finanzielle Situation als schwierig oder gar kritisch einschätzen. Wieder stechen dabei besonders die EU-Südländer Frankreich, Griechenland und Italien hervor; hier schätzt sich jeweils nur ein Viertel als wohlhabend ein. In Polen, Rumänien und Deutschland hält dagegen jeder zweite seine finanzielle Lage für gut.

Erkenntnis zwei: Die Zukunft macht noch größere Sorgen

Noch negativer scheint die Stimmung, wenn nicht nach dem Heute gefragt wird, sondern danach, wie die Leute in die Zukunft blicken. Selbst wem es aktuell gut geht, fürchtet häufig eine Verschlechterung in den nächsten Jahren. Auch das gilt wieder vor allem für die Menschen im wohlhabenden Westen.  

So sind in der dpart-Erhebung beinahe 70 Prozent der deutschen Befragten der Ansicht, dass sich ihr Lebensstandard in den kommenden Jahren verschlechtern wird, ähnlich wie die Menschen in Frankreich und Italien. Die griechischen Befragten sind dagegen hoffnungsvoller gestimmt, was mit der zuletzt positiven wirtschaften Entwicklung im Land zu tun haben könnte. Rumänen, Polen, Schweden und Letten blicken etwas weniger sorgenvoll nach vorn, aber auch dort überwiegt der Pessimismus.

Für Deutschland zeigt sich auch hier, dass die Sympathisanten von AfD und BSW sowie die Befragten ohne Parteinähe besonders pessimistisch sind. Allerdings wird auch deutlich, dass selbst die politische Mitte gegen Zukunftssorgen nicht immun ist. Ob bei SPD, Grünen, FDP oder der Union – mehr als die Hälfte gibt an, in Zukunft einen schlechteren Lebensstandard zu fürchten.

Trotzdem bestätigen die Daten, was frühere Untersuchungen beispielsweise zur AfD-Wählerschaft gezeigt hatten: Vor allem Ängste vor einem künftigen Abstieg treiben Menschen zu populistischen oder gar extremen Parteien.

Erkenntnis drei: Die Politik löst die Probleme gefühlt nicht

Wie lässt sich dieser Pessimismus erklären? Dahinter steckt das Gefühl, dass die Politik die Probleme der Menschen nur unzureichend löst. Dieser Eindruck scheint in allen untersuchten Ländern vorzuherrschen, ungeachtet dessen, dass sich die tatsächliche politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage jeweils sehr unterschiedlich darstellt.

So sind in allen acht untersuchten EU-Ländern etwa zwei Drittel der Befragten unzufrieden damit, wie der Staat mit den steigenden Lebenskosten – Miete, Energie, Nahrungsmittel – umgeht. "Das war mit das wichtigste Thema in den Gruppengesprächen, die wir begleitend zur Umfrage gemacht haben", sagt Neele Eilers von dpart: "Da ging es ganz konkret beispielsweise um die Preise für Brot und Haferflocken, verbunden mit der Angst vor Altersarmut." Auch in den Gesprächen in Deutschland. In etwa jeder Zweite empfindet auch den jeweiligen nationalen Umgang mit dem russischen Krieg als unzureichend, wobei unklar bleibt, aus welchen Gründen genau – mehr oder weniger Waffen beziehungsweise Verhandlungen – man unzufrieden ist.

Diese Wahrnehmung zieht sich durch viele Themen hindurch. So denkt in etwa jeder Zweite über alle acht Staaten hinweg, dass die direkte Umwelt – etwa die Luft- und Wasserqualität sowie die Müllentsorgung– sich verschlechtert hat. Besonders unzufrieden sind die Menschen den Daten zufolge mit der medizinischen Versorgung. Fehlende Pflegekräfte und langes Warten auf Arzttermine sind offenbar kein rein deutsches Problem.

Womöglich lässt sich aus diesen Befunden vielleicht kein Rezept, aber doch eine grobe Richtung ableiten für die Frage, was eigentlich gegen zunehmende Politikverdrossenheit, gegen wachsenden Zulauf für populistische und radikale Parteien zu tun wäre: mehr Fokus auf diese sehr handfesten Probleme (und weniger beispielsweise auf Genderverbote), ein noch stärkeres Bemühen, einer Lösung zumindest näherzukommen. 

Auch die Sicherheit im Wohnviertel macht vielen Sorgen, insbesondere in Deutschland. Dabei gibt es erneut einen Schwerpunkt bei AfD- und BSW-Sympathisanten sowie bei Menschen ohne Parteinähe: Sie sind den Daten zufolge besonders häufig der Ansicht, dass sich ihre persönliche Sicherheit in ihrer Umgebung verschlechtert hat. "Die Umfrage misst allerdings nur die Wahrnehmung der Menschen. Daraus folgt nicht, dass sich die Lage objektiv verschlechtert hat", sagt Eilers: "In den Gruppengesprächen hatten wir den Eindruck, dass das auch stark von Medienberichterstattung und vom Hörensagen geprägt ist, nicht unbedingt von eigenen Erfahrungen." Dafür spricht auch, dass sich beispielsweise in Deutschland die Anhänger der AfD besonders unsicher fühlen. Aus der Wahlforschung weiß man jedoch, dass diese Partei vornehmlich in ländlicheren Gegenden gewählt wird, weniger in urbanen Kriminalitätsschwerpunkten.

Erkenntnis vier: Migration wird akzeptiert – wenn sie nützlich ist

Beim Thema Migration zeigen die Daten schließlich ein differenziertes Bild. So stimmt in allen acht untersuchten EU-Staaten knapp die Hälfte der Befragten der Aussage zu, dass Migration die jeweilige Gesellschaft insgesamt bereichert. Zugleich sind jeweils in etwa zwei Drittel der Meinung, dass Minderheiten "derzeit zu viel fordern" – und dass Migranten nur dann eingebürgert werden sollten, wenn sie sich anpassen und "zur Wirtschaft beitragen".

Diese Haltung zeigt sich auch in Deutschland. Hier sind selbst zwei Drittel der Grünenanhänger der Meinung, dass die Staatsbürgerschaft mit Anpassung sowie einem eigenen ökonomischen Beitrag verbunden werden sollte. "Gerade in Deutschland knüpfen die Menschen die Akzeptanz von Migration sehr stark an eine Leistungserwartung, was auf eine neoliberale und rassistische Logik hinweist", sagt Eilers.

Vielleicht spricht aber auch aus diesen Daten vor allem ein ziemlich pragmatischer Blick vieler Wählenden: Sie begrüßen Migration, wenn auch vor allem aus einer Nützlichkeitsüberlegung heraus, wollen diese aber an Regeln und Bedingungen knüpfen. Diese Erwartung in praktische Politik zu übersetzen, dürfte indes nicht einfach sein. Allein die Forderung, Migrantinnen und Migranten sollen sich "anpassen", lässt sich sehr unterschiedlich interpretieren, von bloßer Gesetzestreue bis hin zu konservativen Leitkulturideen. Da konsensfähige Lösungen zu finden, bleibt die Aufgabe der Politik. Mit diesen Daten bekommt sie zumindest eine bessere Vorstellung davon, welche Prioritäten Wählerinnen und Wähler dabei haben.