Wenn die türkische Nationalmannschaft am heutigen Samstagabend zum ersten Mal bei dieser EM auf den Rasen des Berliner Olympiastadions läuft, dann ist das für sie auch ein Heimspiel. Etwa 200.000 Menschen mit türkischen Wurzeln leben in Berlin und schon bei den letzten Spielen der Türkei verwandelten viele von ihnen die Fanzonen und Straßen der Stadt in ein Meer aus roten Fahnen. Der Einzug ins Viertelfinale ist ein Riesenerfolg für die türkische Mannschaft, zuletzt kam sie bei der EM 2008 so weit. Doch vor dem Spiel gegen die Niederlande rückt der sportliche Erfolg in den Hintergrund.  

Nun geht es um Politik – und die Frage, wie viel Rechtsextremismus in einer Geste steckt. Der türkische Abwehrspieler Merih Demiral hatte nach seinem zweiten Tor am Dienstagabend gegen Österreich beide Hände zum Wolfsgruß in Richtung der türkischen Fans erhoben. Äußerlich nicht vom Schweigefuchs zu unterscheiden, den Lehrer oft in Grundschulen einsetzen, ist der Wolfsgruß das Symbol der Grauen Wölfe: Der nationalistischen türkischen Ülkücü Bewegung, die vom deutschen Bundesverfassungsschutz als rechtsextremistisch eingestuft wird. Rund 12.000 Anhänger leben dessen Schätzungen zufolge in Deutschland. Ideologischer Kern der Bewegung ist die Überhöhung der türkischen Nation, Antisemitismus und Hass auf kurdische, alevitische und andere Minderheiten. Sie verübte in der Türkei mehrfach Anschläge mit zahlreichen Todesopfern.

Merih Demiral behauptete nach dem Spiel, er habe mit dem Gruß lediglich seinen Stolz, Türke zu sein, ausdrücken wollen. Die Uefa leitete ein Verfahren gegen den Abwehrspieler ein. Es folgten diplomatische Verstimmungen zwischen Deutschland und der Türkei, beide Länder bestellten den jeweils anderen Botschafter ein, dann der Schock für die türkische Mannschaft: Demiral wird für zwei Spiele gesperrt.

In der Türkei ist die ultranationalistische MHP die politische Vertretung der Ülkücü-Bewegung, sie ist zugleich Partnerin der islamisch-konservativen AKP von Präsident Recep Tayyip Erdoğan.

Erdoğan schaltete sich nicht nur in die Debatte ein – Demiral habe lediglich seine "Begeisterung" über sein Tor ausgedrückt –, er reist persönlich zum Spiel nach Berlin an. Und türkische Fußballultras heizen die Stimmung weiter auf: Sie haben die Fans im Berliner Olympiastadion auf X dazu aufgefordert, während der türkischen Nationalhymne den Wolfsgruß zu zeigen. Damit sollten sie zeigen, "dass das Zeichen der Grauen Wölfe kein 'Rassismus' ist, sondern 'das nationale Symbol des Türkentums'", hieß es. Die Berliner Polizei bereitet sich auf ein "Nonplusultra-Hochrisikospiel" vor, wie es die Gewerkschaft nennt. Wie blicken deutschtürkische Fußballfans in Berlin auf die Debatte?

Adnan Tuc steht am Donnerstagabend am Rand des Kunstrasenplatzes seines Vereins Berlin Hilalspor und schaut einer Gruppe junger Männer beim Training zu. "Für mich haben politische Zeichen im Fußball nichts verloren", sagt er. So wie der Vorsitzende des Kreuzberger Fußballvereins sehen es einige der Männer, die am Zaun um das Spielfeld lehnen und sich auf Türkisch und Deutsch über die anbrechende Saison unterhalten. Über Politik werde auf dem Platz grundsätzlich nicht gesprochen, sagt Mohamed, der bei den ersten Herren spielt, aber wegen eines Kreuzbandrisses nur zuschauen kann.

Andere begegnen der Aufregung über den Wolfsgruß eher mit Unverständnis. Auch Spieler anderer Mannschaften seien im Laufe der EM ja bereits mit Gesten aufgefallen, wie Jude Bellinghams Griff in den Schritt, da falle der Gruß nicht besonders aus der Reihe, sagen einige der Spieler. Yusuf, 25, der die A-Jugend trainiert, sagt, der Wolfsgruß sei kein rechtsextremistisches Symbol, sonst, so sein Argument, hätte Demiral ihn ja nicht gezeigt. Er finde es schade, dass der sportliche Erfolg der Türkei durch die Diskussion über den Gruß in den Hintergrund trete. Und Balci, der gekommen ist, um seinem Sohn beim Training zuzuschauen, findet: "Die Debatte fördert nicht das Miteinander in Deutschland."

Doch genau diese Debatte hält Eren Güvercin in Deutschland für dringend angebracht. Der Mitbegründer der Alhambra-Gesellschaft, die sich für einen offenen innermuslimischen Dialog einsetzt, warnt vor dem Einfluss der Grauen Wölfe auf junge Türken in Deutschland. "Sie vermitteln den jungen Menschen der dritten und vierten Generation: Du wirst hier nie anerkannt sein, behalte deine türkische Identität." Eine Identifikationsfigur wie der Fußballer Merih Demiral trüge mit der Zurschaustellung des Grußes vor einem Millionenpublikum zu einer Normalisierung nationalistischen und rechtsextremen Gedankenguts bei.

Doch wissen die Menschen in den Stadien und auf der Straße überhaupt, was die Geste bedeutet? Sicher sei sich nicht jeder Jugendliche hier der rechtsextremistischen Dimension des Grußes bewusst, sagt Güvercin. "Aber im türkischen Kontext muss man schon hinter dem Mond leben, um die rechtsextreme Bedeutung des Wolfsgrußes nicht zu kennen." Der Wolfsgruß sei das dominante Symbol schlechthin bei Anschlägen Rechtsextremer in der Türkei.

Bisher sind die Grauen Wölfe nur in Frankreich verboten, in Österreich sind es ihre Symbole. Die Bundesregierung prüft ein Verbot seit 2020. Eren Güvercin wirft der deutschen Politik vor, die Gefährlichkeit der Bewegung nicht ernst genug zu nehmen. Ein Verbot des Wolfsgrußes ist aus seiner Sicht das Mindeste, was die Politik tun könne. "Die Brandmauer", sagt er, "muss auch den türkischen Rechtsextremismus umfassen".