Natürlich beginnt dieser Spielbericht mit dem Offensichtlichen, dem letzten Moment, der hängenbleibt, dem österreich-türkischen Schlussakt. Auf die Sekunde genau war das Spiel inklusive der Nachspielzeit vorbei, als Österreichs Alexander Prass den Ball noch einmal reinschaufelte, mehr mit Hoffnung als mit Zuversicht. Wenn ein Ball am Ende eines Spiels so
lange und so hoch in der Luft ist, darf ein Spieler des Gegners niemals drankommen. Weiß man doch. Aber Christoph Baumgartner drängelte sich durch am zweiten Pfosten, niemals also hätte er köpfen dürfen und niemals hätte der nicht reingehen dürfen. Doch dieses Spiel operierte nicht mit Gewissheiten.

Mert Günok heißt der Mann, von dem Baumgartner nun träumen wird. Der türkische Torhüter sprang ab, hob reflexartig die Hand und lenkte den mit Druck nach unten auf den klitschnassen Rasen geköpften Ball knapp vor der Linie über sein Tor ins Aus. Sekunden vor dieser Szene vergab Barış Alper Yılmaz frei einen Konter vor dem österreichischen Tor zum 3:1, Sekunden danach war das Spiel vorbei. Alle stürmten auf Günok zu, die türkische Party in Leipzig begann. Baumgartner brach in Tränen aus.

Rasend ging dieses 2:1 zu Ende. Rasend hatte dieses Achtelfinale angefangen. In den ersten 34 Sekunden hetzte der Ball wie ein Flipper über das Feld, verließ den Mittelkreis, lernte durch Marcel Sabitzer den türkischen Strafraum näher kennen und stellte sich wenige Augenblicke der österreichischen Grundlinie vor. Ball ins Aus geklärt, Ecke Türkei, drei Österreicher, die sich beim Missverstehen im Weg stehen und schon drückte Innenverteidiger Merih Demiral den Ball für die Führung über die Linie.

Weitere zwei Minuten später legte Baumgartner einen Schuss knapp am Tor und rutsche an einer flach getretenen Ecke um Zentimeter vorbei. Die österreichische Walze lief gnadenlos an, nach fünf Minuten war genug Material für eine Highlight-Show beisammen. Doch die Führung hatten die Türken.

Angepeitschte türkische Mannschaft

Einschalten und bloß nicht abschalten – das versprach dieses Achtelfinale. Es wurde ein spektakulärer Abend, angemessen dramatisch inszeniert von seinen Protagonisten, mit einer Schlusspointe, die niemanden kaltließ.Die Türkei als zweitjüngste Mannschaft dieser EM, die, egal wo sie spielt, angepeitscht von einer frei drehenden Menge auf den Rängen immer mit ein bisschen mehr Herz als mit Verstand spielen wird. Die gegen Georgien schon ein Spektakel lieferte, die Tschechen in Überzahl fast nicht bezwang und gegen Portugal unterging.

Und Österreich, der leichte Favorit, weil Ralf Rangnick dieser Mannschaft eine klare Identität verordnet hat: permanenter Stress. In bisher jedem Spiel führte das zu einer ansehnlichen Hast. Und zum Gruppensieg vor Frankreich und den Niederlanden.

Doch die Türken waren vorbereitet. Im März wurden sie von Rangnicks Rennern in Wien mit 6:1 überlaufen. Auch wenn es alle vor und nach der Partie versuchten runterzuspielen: Sie waren natürlich auf Wiedergutmachung aus.

Die erste Halbzeit sah nach dem Kickstart aus wie ein Basketballspiel ohne Körbe. Es wog von links nach rechts, die Österreicher dominierten die ersten 20 Minuten, versuchten es mit langem Ballbesitz um den Strafraum herum, mit Halbfeldflanken, mit kurzen Pässen und mit langen Bällen auf Marko Arnautović. Dann kontrollierte die Türkei. Aber keiner von beiden kam durch.

Alle Augen auf Arda Güler

Bei den Türken tat sich der 19-jährige Arda Güler hervor. Weil Kapitän Hakan Çalhanoğlu gesperrt fehlte, lenkte er das Spiel. Seine Dribblings gegen zwei oder drei verschafften der Türkei Zeit, einmal probierte er einen Torschuss aus dem Mittelkreis. Es waren seine scharfen Eckbälle, nach denen die Tore fielen. Beim zweiten warfen die österreichischen Fans Dutzende Bierbecher in seine Richtung, eine verbreitete Unsitte bei dieser EM, doch Gülers Füße antworteten ihnen.

Nach dem Tor hielt er seine Finger an seine Ohren in Richtung der Werfer. Mesut Özil sagte schon vor zwei Jahren, der werde ein Weltstar. Teamkollege Jude Bellingham von Real Madrid sieht ihn jeden Tag im Training und nennt ihn ein Phänomen. Gut möglich, dass dieses Spiel gegen Österreich bald immer mit erwähnt wird, wenn es um Güler geht. Er war es auch, der in der zweiten Halbzeit zur Bank brüllte, kurz darauf wurde Salih Özcan eingewechselt, um den wankenden Vorsprung festzuhalten.

Denn Rangnick zögert nicht mit Wechseln. Alexander Prass' Flanken sollten ab der Pause Michael Gregoritschs Kopf suchen und das taten sie auch. Die beiden gaben dem Spiel neue Energie, wieder dominierten sie die erste Viertelstunde – und wieder waren es die Türken, die nach einer Ecke trafen. Demiral stieg in den Leipziger Abendhimmel und köpfte die 2:0-Führung.

Es wurde nie langweilig, selbst wenn aus dem Basketballspiel nun ein Handballmatch mit nur einem Tor wurde. Die Türkei wollte nur noch den Vorsprung halten. Auch nach dem 1:2 von Michael Gregoritsch. Kapitän Kaan Ayhan sprach von einem dreckigen Sieg: "Wir haben heute nicht den schönsten Fußball gespielt, aber unser Herz auf dem Platz gelassen." Trainer Vincenzo Montella sah die Seele seines Teams, und man spürte in diesem Augenblick, wie perfekt ein italienischer Trainer in die fußballverrückte Türkei passt. Bis zur Parade von Günok ließen sie kaum noch echte Chancen zu, Österreich wirkte ratlos. Sie hatten deutlich mehr Chancen, mehr Ballbesitz, aber der K.-o.-Runden-Fußball legt darauf keinen Wert.

Rechtsextreme Geste

Er bringt stattdessen widersprüchliche Helden wie den doppelten Torschützen Demiral hervor. Der machte das Spiel seines Lebens, jubelte aber mit dem Wolfsgruß, einer Geste der rechtsextremen türkischen Grauen Wölfe. Er habe den Gruß von vielen Fans im Stadion gesehen und er sei stolz, Türke zu sein, daher habe er es gemacht. Und hoffe, sie künftig noch ein paarmal wiederholen zu dürfen. Eine verstecke Botschaft stecke darin nicht. Am Jahrestag des Sivas-Massakers klingt das aber für nicht wenige höhnisch.

Auch der Torschütze der Unterlegenen hatte eine Botschaft. Michael Gregoritsch sagte über die vergangenen österreichischen Wochen: "Man hat gesehen, dass wir alle in diesem Land für eine Sache stehen können, die gut ist. Wir sollten uns ganz weit entfernen vom rechten Gedankengut und wissen, wie wichtig es ist, dass wir alle gleich sind." Hat noch jemand Zweifel an seiner Freiburgsozialisierung?

Der Sieg war jedenfalls auch eine schlechte Nachricht für den Schlafrhythmus deutscher Stadtbewohner, egal ob in Freiburg, Dortmund oder in Berlin, wo die Türkei nun auf die Niederlande trifft. Er war aber auch der größte des türkischen Fußballs seit dem EM-Halbfinaleinzug 2008.