Für Mika Rosen droht der Protestmarsch gegen die AfD schon zu enden, bevor er richtig begonnen hat: auf einer Kreuzung vor der Autobahnausfahrt A 52. Es ist Samstagmorgen gegen sieben Uhr. In drei Stunden will die Partei in der Essener Grugahalle ihren Bundesparteitag abhalten. Rosens Tross, 2.000 Leute aus allen Ecken Deutschlands, wollte das verhindern.

Doch nun stehen da mehrere Hundertschaften Polizisten.  

Ein paar Stunden zuvor. Es ist 3.30 Uhr morgens. Mika Rosen, 22, hat kaum geschlafen. Er war zu aufgeregt. Rosen kommt aus einer Kleinstadt in Westdeutschland. Genauer will er es nicht sagen. Vor fünf Jahren, damals noch also Schüler, hat er sich der Klimagerechtigkeitsbewegung angeschlossen. Erst Fridays for Future, nach zwei Jahren wechselte er zu Ende Gelände, weil er die Demos der Schülerbewegung für nicht mehr ausreichend hielt.

Mika Rosen im Camp gegen Rassismus © Maximilian Mann für ZEIT ONLINE

Jetzt steht er mit etwa 2.000 Menschen in gelben Warnwesten auf einem Waldstück in Essen-Horst. Die Polizei hat ihnen das Stück zugewiesen. Sie haben dagegen geklagt, wollten näher in Richtung Stadt. Zwei Gerichte weisen die Klage zurück. Sie haben sich damit arrangiert. Das Waldstück haben sie Camp gegen Rassismus genannt. Am ansonsten schwarzen Himmel leuchtet noch der Halbmond.

Sie stehen da in Sechserreihen. Auf Ordnung wird viel Wert gelegt. Wer in Aktion geht, muss diszipliniert marschieren können, heißt es. Als eine Reihe noch in die Mitte eingegliedert werden muss, rufen die Leute: "Biep, Biep, Biep." Dabei gehen sie synchron zurück. Andere verteilen Zettel mit den Texten der Demolieder. Es gibt schon leises Warmsingen, "auf die Barrikaden". Der bunt beleuchtete Lautsprecherwagen fährt in Position. Pünktlich setzen sich die Demonstrierenden in Bewegung. 

Zwölf Kilometer Fußmarsch zur Grugahalle stehen ihnen bevor.

Um 3.30 Uhr startet der Demozug vom Camp Richtung Essener Grugahalle. © Maximilian Mann für ZEIT ONLINE

Eine historische Demonstration

An diesem Tag wird in Essen Historisches geschehen. Etwa 70.000 Demonstrierende werden nach Angaben der Veranstalter zusammen kommen, um gegen einen Parteitag zu demonstrieren. So viele wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik.

Zwei Monate haben sich Gewerkschaften, Kirchen, Klimabewegung, Antirassismusgruppen und migrantische Organisationen auf dieses Wochenende vorbereitet, um sich der AfD entgegenzustellen. Sie haben zwei große Bündnisse geschmiedet, die Gemeinsam laut und Widersetzen heißen, sie haben Homepages gebastelt, ein Onlinebusbuchungssystem erstellt. "Es ist Wahnsinn, wie viel Mühe und Arbeit die Menschen reingesteckt haben", sagt Rosen, der sich zu Widersetzen zählt. Ein solch breites Bündnis habe es in dieser Form selten gegeben.

Die Stadt Essen hat vor Kurzem noch versucht, den Parteitag gerichtlich zu verhindern. Ohne Erfolg. Dafür hat sie sich für dieses Wochenende ein paar Gemeinheiten überlegt. Die U-Bahn-Station Grugahalle wurde in Vielfalt umbenannt, vor dem Eingang der Halle wehen Europa- und Regenbogenflaggen. 

Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten © Maximilian Mann für ZEIT ONLINE

Gleichzeitig hat sich die Polizei minutiös darauf vorbereitet, dass der Parteitag konform abläuft. Tausende Beamte aus ganz Deutschland haben jeden wichtigen Winkel in Essen besetzt. Schon nachts schwirrte ein Hubschrauber über der Stadt. Auch jetzt, als der Tross um Mika Rosen der Grugahalle immer näher kommt, ist das Summen der Drohnen zu hören.

Rosen findet das Verhalten der Polizei erschreckend, schließlich würden sie ja die Falschen schützen. Gleichzeitig kritisiert er die Kriminalisierung von Menschen, denen die Umwelt und die Gesellschaft am Herzen liege. Ende Gelände, das Klimaschutzbündnis, dem er angehört, wird seit Kurzem vom Bundesamt für Verfassungsschutz als linksextremistischer Verdachtsfall geführt. Dabei kämpften sie nur für die Rettung des Klimas, für Umverteilung von Wohlstand, gegen ausbeuterische Konzerne und Neokolonialismus. Und natürlich auch gegen den Faschismus. Deshalb ist er nun aus Berlin nach Essen gereist. Denn die Klimakrise lasse sich nicht bewältigen, wenn in einem Land Faschisten die Geschäfte führten, die die Existenz genau dieser Krise leugneten. "Die AfD hetzt gegen Menschen, die wegen der Klimakrise fliehen müssen, sie lehnt auch die Verantwortung des Globalen Nordens ab. Das verhindert den Diskurs darüber, Lösungen zu finden", sagt Rosen. Parteien wie die AfD seien letztlich eine Gefahr für die gesamte Menschheit.

Irgendwann kommt Rosens Tross an der Kreuzung zur Autobahnauffahrt an. Mehrere Hundertschaften Polizisten stehen bereits da. Aus irgendeinem Grund, vielleicht wollen sie die Polizei ein bisschen stressen, versuchen die Demonstrierenden plötzlich, die genehmigte Route zu verlassen. Es kommt wie häufiger an diesem Tag zu Scharmützeln. Sie haken sich unter. Es wird gedrückt und geschoben. Polizisten sprühen Pfefferspray in die Menge, schlagen ab und an überhart mit Fäusten zu oder treten mit schweren schwarzen Stiefeln. Ein paar Leute gehen zu Boden, Tränen in den Augen, Demosanitäter reichen Wasser. Rosen hält, soweit es möglich ist, seine Linie. Dann fahren plötzlich zwei Wasserwerfer auf. Eine halbe Stunde nachdem die Auseinandersetzung begonnen hat, setzen sich die 2.000 Menschen auf die Straße. Aus dem Marsch wird eine Blockade der Kreuzung. Von Polizei umringt skandieren sie: "Siamo tutti antifascisti." Wir sind alle Antifaschisten.

Alassa Mfouapon, Sprecher des Freundeskreises Flüchtlingssolidarität © Maximilian Mann für ZEIT ONLINE

An der Kreuzung, die Rosen mit seinem Tross blockiert, steht Alassa Mfouapon. Der 35-Jährige ist Sprecher des Freundeskreises Flüchtlingssolidarität und jetzt auch von Widersetzen. Vor sieben Jahren kam er aus Kamerun nach Deutschland. In seiner Erstaufnahmeeinrichtung in Ellwangen machte er rasch Bekanntschaft mit der AfD. Gemeinsam mit anderen Geflüchteten versuchte er, die Abschiebung eines Mannes aus Togo zu verhindern. Es kam zu einem großen Polizeieinsatz. Alice Weidel bezeichnete ihn daraufhin als Rädelsführer einer Art Aufstand, für die Partei wurde er zum Musterbeispiel eines nicht integrierbaren Migranten. Auf Social Media sei er teils übel beleidigt worden, erzählt er. Mfouapon führte deshalb mehrere Verfahren gegen die AfD. Bislang habe er alle gewonnen.

Es sei wichtig, dass sich bei solchen Protesten gerade auch Migrantinnen und Migranten zeigten. "Die AfD versucht, uns durch rassistische Hetze auseinanderzutreiben, das dürfen wir nicht zulassen."

Eine Szene bei der Anti-AfD-Demo in Essen am 29. Juni 2024 © Maximilian Mann für ZEIT ONLINE

Schwerverletzte bei der Halle

Am späten Vormittag strömen immer mehr Demonstrierende in Richtung Grugahalle. Es geht hoch her, zumindest zwischenzeitlich. Nicht alle AfD-Delegierten haben im Hotel direkt neben der Halle, also innerhalb der Sperrzone, übernachtet. Die Übrigen müssen sich von Polizisten umringt ihren Weg mitten durch die Demonstranten zum Parteitag bahnen. Sie werden beschimpft.

"Wir wollen keine Nazischweine."
"Ganz Essen hasst die AfD."

Manche werden mit Wasser bespritzt. Einer kommt zu Fall und beißt einem Demonstranten in die Wade. Im Tumult geht die Autoscheibe eines Streifenwagens zu Bruch. Auch die Demonstranten werden gewalttätig. Nach Angaben der Polizei wurden allein bei einer dieser Geleitaktionen neun Beamte verletzt, zwei von ihnen so schwer, dass sie über Nacht im Krankenhaus bleiben müssen. Demonstranten hätten auf die beiden Polizisten eingeschlagen und weiter auf ihre Köpfe eingetreten, als diese schon am Boden lagen. Die vermummten Täter seien unerkannt in der Menge verschwunden. Die Veranstalter sprechen ebenfalls von mehreren Verletzten auf ihrer Seite.

Eine Szene bei der Anti-AfD-Demo in Essen am 29. Juni 2024 © Maximilian Mann für ZEIT ONLINE

Es gibt auch eine Bühne, eine davon auf dem Platz vor der Parteitagshalle. Dort stehen auch Familien, Schüler, Studentinnen, die Omas gegen Rechts. So richtig Stimmung will allerdings nicht aufkommen. Denn das Demogelände ist zu weitläufig, auch die Stadt hat auf einem nahe gelegenen Messeparkplatz zu einer Kundgebung gerufen, zudem treibt die Sonne die Menschen in die schattigen Ecken. Der Platz füllt sich kaum. Auch nicht, als dort Alice Czyborra von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) spricht. Um ihren Hals hat sie ein Schild gehängt. "Tante und Onkel wurden in Auschwitz umgebracht", steht darauf. Damals hätten die Menschen nicht gewusst, was Faschismus bedeutet, sagt sie. "Für alle nachfolgenden Generationen gibt es keine Ausreden mehr." Verstreuter Applaus.

Silvia Klesz (rechts) und Marion Fabian von Oma gegen Rechts. Sie demonstrieren gegen den AfD-Parteitag in Essen am 29. Juni 2024. © Maximilian Mann für ZEIT ONLINE

Am Nachmittag, Tino Chrupalla und Alice Weidel sind da schon als AfD-Doppelspitze wiedergewählt, verschicken die beiden Bündnisse ihre erste Bilanz. 70.000 Menschen seien gekommen. Aber aus ihrer Sicht fast noch viel besser: Der Parteitag konnte zwar nicht verhindert werden, aber erst mit knapp halbstündiger Verspätung beginnen. "Das ist ein riesiger Erfolg", wird Rosen später sagen. Dass die AfD sich daran kaum gestört haben wird, sei nicht so wichtig. "Wir haben heute ein krasses Zeichen gesetzt."

Alassa Mfouapon sagt, dieses Wochenende in Essen sei erst der Anfang. Noch vor der dortigen Landtagswahl wolle er mit dem Bündnis Widersetzen auch in Thüringen auftauchen. Für Björn Höcke sollte der heutige Tag eine Art Vorgeschmack sein.