Spätestens während der Wahl der Vorsitzenden wird klar: Dieser Parteitag der AfD soll ein Fest der Harmonie werden. Der gerade im Amt bestätigte Parteichef Tino Chrupalla setzt am Rednerpult an, seine Co-Chefin Alice Weidel zur Wiederwahl vorzuschlagen. "Ich schlage meine geliebte …" – der Rest geht in Applaus amüsierter Parteimitglieder unter. Chrupalla setzt erneut an: "… meine geliebte Co-Vorsitzende" Alice Weidel vor. Weidel lobt in ihrer Bewerbungsrede dann "meinen geliebten … Tino" und ergänzt, an ihn gerichtet: "Ich hatte eigentlich auf deinen Antrag gewartet."

Die AfD will bei ihrem Bundesparteitag in Essen den Anschein von Disharmonie um jeden Preis vermeiden. Das Delegiertentreffen verläuft an seinem ersten Tag, als wolle man geschlossen dem Eindruck entgegentreten, den viele Vorberichte der Medien erweckt hatten: In Essen werde mit der Parteispitze abgerechnet, es würden die Fetzen fliegen.

Der Umgang mit Europa-Spitzenkandidat Maximilian Krah, den Weidel und Chrupalla wegen diverser Skandale vom Wahlkampf suspendierten, sein Ausschluss aus der AfD-Delegation im Europaparlament, die fallenden Umfragezahlen, das Abrücken europäischer Partnerparteien von der AfD – all das sollte zur Sprache kommen. Das ließ sich aus den Reaktionen vieler AfD-Politiker in den Wochen nach der Europawahl ablesen, die entsprechende Anträge für den Parteitag waren gestellt. Vieles sprach dafür, dass der Parteitag 2024 ähnlich hitzig ablaufen würde wie der vor neun Jahren am selben Ort: Als die nur zwei Jahre alte AfD vor der Spaltung stand, als sie sich nach erbittertem Streit Bernd Luckes entledigte, weil der AfD-Mitgründer vor Radikalisierung warnte, und als Frauke Petry und Jörg Meuthen die Spitze übernahmen.

Parteimitglieder gratulieren Alice Weidel in Essen zur Wiederwahl als Parteichefin. © Thomas Victor für ZEIT ONLINE

Die diesmal zur Schau getragene Harmonie hat mehrere Hintergründe: Einer sind die nahenden Wahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen, wo die AfD stärkste Kraft werden könnte. Wenige Wochen zuvor die Parteispitze zu demontieren, das könnte Wählerinnen und Wähler abschrecken. Jenen, die sich in Interviews, in Chats, auf X und anderswo über den Umgang mit Krah entrüstet hatten, reichte offenkundig die Aufarbeitung der vergangenen Wochen in Form von Interviews und Chat-Diskussionen aus. Das Bedürfnis nach offener Generalaussprache in Essen war geschrumpft. Es zeigte sich: Anträge werden manchmal nur gestellt, um die Diskussion anzuheizen – und dann beerdigt. 

Daran hat auch die Parteitagsregie ihren Anteil. So wurde im Verborgenen wenige Stunden vor Beginn eine von Bayern eingebrachte Resolution wegverhandelt, die die Partei aufforderte, sich hinter ihren gewählten Spitzenkandidaten Krah zu stellen. Offiziell zogen die Antragsteller ihn kurz nach Beginn am Saalmikrofon zurück. So war das Risiko einer Abrechnung mit der Parteispitze schon einmal deutlich reduziert.

Parteitagsmerch am Stand der Jungen Alternative, der AfD-Parteijugendorganisation © Thomas Victor für ZEIT ONLINE

Auch die Abwesenheit Krahs dürfte dazu beigetragen haben, die Stimmung in Essen zu harmonisieren. Zumindest als Gast hätte er in der Grugahalle erscheinen können, tauchte aber nicht auf. Und letztlich kann eine Partei auch der – als freiheitsfeindlich und linksradikal diffamierte – Protest zusammenschweißen, der in Essen vor der Grugahalle und im weiteren Stadtgebiet so stark ausfiel wie noch nie zuvor. 

Gegen Chrupalla und gegen Weidel traten – anders als vor zwei Jahren beim Parteitag in Riesa – keine Gegenkandidaten an. Im Wahlverfahren gab es – anders als sonst – auch keinerlei Fragen an die Kandidierenden, obwohl die Gelegenheit bestand. Chrupalla, der 2022 bei der Vorstandswahl in Riesa gerade die 50-Prozent-Schwelle schaffte, schnitt in Essen mit 83 Prozent sogar drei Punkte besser ab als Weidel. Innerparteilich befindet sich der Sachse, dem in der Partei viele mangelnde Intellektualität und zu starke Russland-Nähe vorwerfen, nun auf Augenhöhe mit Weidel, die bei den Anhängern große Sympathie genießt. Auch die Wahl der Stellvertreter und Beisitzer im Vorstand verlief mit wenigen Ausnahmen nach Plan. Zeitraubende Pattsituationen, bei denen sich rivalisierende Lager gegenseitig blockierten, gab es erstmals nicht. 

Dass die Wahl, anders als bisher, so konfliktfrei verlief, ist auch Ergebnis einer schleichenden Normalisierung der Prozesse innerhalb der AfD. Ein Netzwerk um den Bundestagsabgeordneten Sebastian Münzenmaier hatte vorab hinter verschlossenen Türen ein Kandidatentableau ausgehandelt, das weitgehend durchkam. Dabei steht nicht mehr West gegen Ost, auch nicht mehr der extremistische Flügel gegen die innerparteilich Gemäßigten. Die Achsen in der AfD haben sich verändert: Bayern paktiert – wie in der Resolution für den Europakandidaten Krah – auch mal mit Sachsen, Sachsen-Anhalt distanzierte sich jüngst von dem völkischen Thüringer Höcke und orientiert sich an Niedersachsen.

Meldete sich am ersten Tag des Delegiertentreffens in der Grugahalle Essen nicht zu Wort: der Thüringer Nationalist Björn Höcke (rechts) © Thomas Victor für ZEIT ONLINE

Was alles nicht heißt, dass die AfD nun weniger radikal wäre. Während sie sich als erwachsen und seriös inszeniert, zeigt sich in einzelnen Wahlgängen, wie extremistische Kräfte das Geschehen nach wie vor maßgeblich mitbestimmen. So erklärt Höcke-Unterstützer Stephan Brandner die Regierung praktisch zu Verbrechern: "Macht die Stimmzettel zu Haftbefehlen", fordert er in seiner erfolgreichen Bewerbungsrede für einen der drei Parteivizeposten. Haftbefehle gegen "die Steuergeldverschwender (…), die das Land runtergewirtschaftet haben". Der Baden-Württemberger Dirk Spaniel, der in einer rechten Gewerkschaft mit einem Neonazi an der Spitze kooperierte, wird zwar nicht gewählt, kann aber immerhin 30 Prozent erzielen. In der weiteren Vorstandswahl kommt die radikale Coronaleugnerin Christina Baum aus Baden-Württemberg auf immerhin 43 Prozent, verliert aber gegen einen stärkeren Gegenkandidaten. 

Am Ende brechen die alten Kämpfe wieder aus, der zuvor erzielte Konsens über das Kandidatentableau fällt auseinander: Um den letzten Vorstandsposten konkurrieren der NRW-Landtagsabgeordnete Markus Wagner und der brandenburgische Bundestagsabgeordnete Hannes Gnauck. Der 32-jährige Gnauck ist Vorsitzender der Jugendorganisation Junge Alternative, ein Soldat, dem die Bundeswehr aufgrund rechtsextremistischer Umtriebe Kasernen- und Uniformverbot erteilte. Erst jüngst hat der Bundestag seine Immunität aufgehoben, um ein Disziplinarverfahren fortzusetzen. Wagner ist Innenpolitiker aus NRW, einem Landesverband, der sich derzeit um die Deradikalisierung der Partei bemüht. 

Delegierte auf dem AfD-Parteitag in der Grugahalle Essen © Thomas Victor für ZEIT ONLINE

Doch die AfD fällt in bekannte Muster zurück: In zwei Wahlgängen kommt keiner der beiden durch. Im dritten gewinnt der rechtsradikale Gnauck mit 0,7 Prozentpunkten mehr als der erforderlichen Mehrheit. 

Weiteres Konfliktpotenzial birgt nun noch der Antrag, ab 2025 den Posten eines Generalsekretärs einzurichten. Die Parteispitze sieht das kritisch, denn ein Generalsekretär verändert Entscheidungswege. Zudem ist daran die Bedingung geknüpft, dass die AfD nur noch einen Vorsitzenden haben soll. Parteiintern galt bisher Chrupalla als absehbarer Verlierer einer solchen Veränderung. Weidel ist als Parteichefin gesetzt, denn auch die von der AfD angekündigte Kanzlerkandidatur läuft auf sie hinaus. Seit seiner Wiederwahl in Essen dürfte aber auch Chrupalla im Spiel bleiben.