Die spanischen Nationalspieler genossen diesen prestigeträchtigen Triumph in vollen Zügen. Zunächst holten sich die Ovationen von ihren Fans in der Schalker Nordkurve ab, dann traten sie bei ihrer Ehrenrunde vor ihren König, der auf der Ehrentribüne der Arena stand. Felipe VI., ein großer Fußball-Fan, spendete Beifall und strahlte – diesmal nahm er keine Huldigungen entgegen, er huldigte selbst.
Die Spanier sind, abgesehen davon, dass sie es durch das 1:0 (0:0) über die Italiener vorzeitig ins Achtelfinale geschafft haben, am Donnerstag zum Top-Favoriten auf den Gewinn der EM aufgestiegen, falls sie es vorher nicht schon waren. Denn auch wenn es das knappe Ergebnis beim zweiten Sieg des Europameisters von 1964, 2008 und 2012 nicht vermuten lässt: Es war eine Machtdemonstration.
„Wir haben gezeigt, dass wir sehr gut spielen können. Wir wollen Europameister werden“, sagte Nico Williams und gab sich überhaupt keine Mühe, den hohen Anspruch hinter irgendeiner Bescheidenheitsfloskel zu vergeben. Wozu auch? Die Berechtigung dieses Ziels war über weite Strecken dieser mit Spannung erwarteten ohnehin unverkennbar: Spanien, das sich mit dem verlorenen Achtelfinale gegen Marokko bei der WM in Katar aus der Weltspitze zu verabschieden schien und im vergangenen Jahr durch unendliche Querelen und Skandale im Verband zu versinken drohte, ist wieder da – zumindest sportlich. Es hat sich fußballerisch neu erfunden.
Dafür stehen vor allem zwei junge Spieler. Der erst 16-jährige Lamine Yamal vom FC Barcelona und der 21-jährige Nico Williams, der offenbar kurz vor einem Wechsel von Athletic Bilbao zum FC Chelsea steht. Die beiden Youngster bilden eine Flügelzange, die an Tempo und Explosivität im internationalen Fußball nahezu einzigartig ist. Beim 3:0-Auftaktsieg gegen Kroatien war es Wunderkind Yamal, das Maßstäbe setzte – die Italiener dagegen fanden gegen Williams kaum Mittel. Immer wieder tankte oder dribbelte er sich über die linke Seite durch, schlug präzise Flanken aus dem Lauf oder schoss auf das Tor. Von den unzähligen spanischen Torchancen kreierte er die meisten. Dass Williams ohne Treffer blieb, lag ausschließlich an Italiens starken Torwart Gianluigi Donnarumma oder an der Torlatte.
Italien fehlt die Qualität
Einer seiner vielen Flanken führte dennoch zum einzigen Treffer: In der 55. Minute, wieder hatte Williams den italienischen Linksverteidiger Giovanni di Lorenzo verdreht, schlug er den Ball halbhoch in den Strafraum. Spaniens Mittelstürmer Álvaro Morata erwischte ihn nicht richtig mit dem Kopf, Donnarumma kam nur mit den Fingerspitzen dran – und Italiens Innenverteidiger Riccardo Calafiori war dann so überrascht, dass er das Spielgerät mit dem Knie ins eigene Tor bugsierte.
„Wir wollten das Niveau Italiens unter Beweis stellen“, sagte Luciano Spalletti, der italienische Trainer anschließend – und musste kleinlaut eingestehen, dass dies komplett misslungen war. Die Squadra Azzurra wurde regelrecht auseinander gewirbelt. Spanien war für den Titelverteidiger schlicht eine Nummer zu groß – zu ballsicher, vor allem aber: zu schnell und zu entschlossen. Um den eklatanten Qualitätsunterschied nicht zu klar benennen zu müssen und so seine Spieler noch zusätzlich zu demotivieren, verstieg sich Spalletti zu einer steilen These. „Ich glaube, dass bei uns etwas in der Regeneration schiefgelaufen ist. Es gab viel zu große Unterschiede, was die Spritzigkeit und die körperliche Frische angeht“, sagte er. Nur so sei zu erklären, dass die Spanier gedanklich immer einen Schritt schneller gewesen waren.
Die Wahrheit ist: Den Italienern, eigentlich auch eine ballsichere Mannschaft, fehlte es an Qualität, um dem Pressing und den schnell vorgetragenen Angriffen der Spanier etwas entgegenzusetzen – außer ihrem Torwart. Der Verdacht liegt nahe, dass es so auch noch anderen Teams mit großen Namen ergehen könnte. Denn Spanien spielt bei dieser EM ganz anders als noch bei den letzten Turnieren. Es gibt keine endlosen, ermüdenden Ballstafetten mehr. Nach Balleroberungen wird extrem schnell umgeschaltet – vor allem über Williams und Jamal.
Spaniens Trainer lobt seine Spieler
Für diesen Stilwechsel steht Luis de la Fuente. Der Trainer, der im Dezember 2022 nach dem Rücktritt von Luis Enrique berufen wurde, hat radikale Veränderungen vollzogen – personell wie taktisch. Ausgerechnet de la Fuente, dessen Trainerlaufbahn sich weitgehend im Nachwuchsbereich des Verbandes abspielte, der nie auch nur ansatzweise das Interesse der großen Klubs aus Barcelona und Madrid auf sich gezogen hatte, hat die Nationalmannschaft revolutioniert. Dies führte bereits zum Gewinn der Nations League im Vorjahr – und könnte nun zum EM-Titel führen.
Der Auftritt gegen die Italiener sei „das bislang beste Spiel“ unter seiner Regie gewesen, sagte de la Fuente. Es sei jedoch noch mehr drin. „Der spanische Fußball ist ein international hochwertiges Produkt. Spanische Fußballer sind für mich die besten der Welt. Der Fokus liegt aber immer darauf, Titel zu holen. Sie sind die Anerkennung für eine große Generation von Spielern“, erklärte der 62-Jährige. Derart selbstbewusste Töne verblüfften selbst die spanischen Journalisten.
Sollte in den kommenden Spielen der verschwenderische Umgang mit Torchancen, der die Italiener zumindest ihr Gesicht wahren ließ, abgestellt werden, wäre der Fantasie tatsächlich keine Grenze gesetzt. Davon ist de la Fuente überzeugt. „Wir können uns auf jeden Fall noch weiter verbessern. Wo die Grenze nach oben ist, weiß ich nicht“, sagte er: „Aber diese Spieler werden sich keine Grenzen setzen und nicht aufhören, bis sie ihren Traum verwirklicht haben.“ Das Selbstbewusstsein, das die Spanier zum Ausdruck brachten, scheint fast schon Selbstgewissheit zu sein.
Alle Spiele der Heim-EM im Überblick:
Spielplan der EM 2024 mit allen Ergebnissen
EM-Spielplan als PDF zum Ausdrucken