Wenn es schon Engländer in Gelsenkirchen kaum aushalten, wie muss es dann erst italienischen oder spanischen Fans dort ergehen? Am Donnerstag kommt es in der Ruhrgebiets-Stadt, die vor einigen Jahren laut eines deutschen Städte-Rankings in Bezug auf Attraktivität auf Platz 401 kam, zum Topspiel der beiden Mitfavoriten auf den Titel. Deshalb werden Zehntausende Fußball-Touristen, teilweise auch aus wunderschönen Städten wie Sevilla oder Florenz, ausgerechnet nach Gelsenkirchen reisen müssen. Da müsste ein Kulturschock doch programmiert sein, oder?
Bei dieser These muss Olivier Kruschinski herzlich lachen. „Nein, die Gefahr besteht ganz und gar nicht“, sagt der überzeugte Gelsenkirchener. Denn eines werde ja bei der ganzen Debatte, ob Gelsenkirchen, die nachweislich ärmste deutsche Großstadt, zudem noch mit allerlei architektonischen Verfehlungen gesegnet, ein unwürdiger EM-Standort sei, oft vergessen. „Die Menschen, die zu uns kommen, kommen doch nicht hierhin, weil sie Scampis naschen wollen – sie kommen, weil sie Fußball sehen und schmecken wollen. Sie kommen, weil sie gutes und günstiges Bier trinken wollen“, so Kruschinski. Was das angeht, sind sie in Gelsenkirchen bestens aufgehoben.
Kruschinski, Vorstand der Stiftung Schalker Markt und Organisator der „Mythos Tour“, die einen Streifzug durch die Fußball-Geschichte des FC Schalke 04 beinhaltet, ist ein gelassener Mensch. Während andere Gelsenkirchener sich in den vergangenen Tagen sehr über das Bashing ihrer Heimatstadt aufgeregt haben, schmunzelt Kruschinski darüber. Mehr noch: Er sieht darin eine Chance für Gelsenkirchen. Nach dem Motto: Schlechte Schlagzeilen sind besser als gar keine Schlagzeilen.
„Da kommt so ein Heiopei nach Sonnenurlaub in München ...“
Über fehlende mediale Aufmerksamkeit kann sich der EM-Standort tatsächlich nicht beklagen. Auslöser war Kaveh Solhekol, ein englischer Sky-Reporter, der ziemlich klar zum Ausdruck gebracht hatte, dass die Stadt nicht unbedingt eine Reise wert sei. Er käme gerade aus München, hatte er gesagt: „München ist eine unglaubliche Stadt. Gelsenkirchen ist ein ziemlicher Kontrast. Denn jetzt sind wir im industriellen Herz Deutschlands, wo die Stahlwerke und die Kohleminen alle nicht mehr da sind. Es nicht wirklich viel übrig geblieben von Gelsenkirchen.“ Er wolle die Menschen dort nicht beleidigen, aber hier gebe es wirklich „nicht viel, was man tun kann“. Paul Brown, ein englischer Influencer, bezeichnete Gelsenkirchen in einem Video sogar als „absolute shithole“, als absolutes Drecksloch.
Engländer spotten über Gelsenkirchen – „Es ist wirklich sehr wenig los“
Ein britischer TV-Reporter muss über das EM-Spiel zwischen England und Serbien berichten, und schildert vorher seine Eindrücke aus Gelsenkirchen. Die sind nicht die besten. „Viele fragen sich, wieso in Gelsenkirchen Spiele stattfinden dürfen“, so WELT-Reporter Paul Klinzing aus Gelsenkirchen.
Quelle: WELT TV
„Was Besseres konnte uns doch gar nicht passieren, jetzt sind wir in aller Munde“, sagt Kruschinski. Eigentlich müsste man Solhekol dankbar sein. „Da kommt so ein Heiopei nach fünf Tagen Sonnenurlaub in München mit Top-Hotel und Biergärten hierhin und wundert sich, dass er hier weder Schlösser noch Burgen findet“, so der bekennende Schalke-Fan. Natürlich, es stimme schon, dass Gelsenkirchen Probleme hat. Die Arbeitslosenquote ist mit 14,1 Prozent die höchste in Deutschland, es gibt mehrere soziale Brennpunkte.
Doch es sei bei weitem nicht so, dass Gelsenkirchen nichts zu bieten habe – vor allem für Fußball-Interessierte sogar mehr als viele andere EM-Städte. Erst kürzlich hat Kruschinski eine App entwickelt, „Schalke Erleben“ heißt sie. Mit ihr wird man beispielsweise durch den Stadtteil Schalke, in dem der Klub 1904 gegründet wurde, geführt und kann sich mittels Augmented Reality Bilder aus der Vergangenheit ansehen – von der alten Glückaufkampfbahn oder dem früheren Tabakladen von Ernst Kuzorra.
Dies sei, so Kruschinski, für Fußballfans sicherlich interessanter als vieles von dem, was das Stadtmarketing Gelsenkirchen immer propagiere. Sicher, es gibt auch ein renommiertes Musiktheater und einen beeindruckend großen Zoo – doch aktuell gehen diese Angebote eher an der Zielgruppe vorbei.
König Felipe VI. müsste Gelsenkirchen mögen
Interessanter dürfte da schon eher die Kirche St. Joseph sein. Dort gibt es ein buntes Fenster mit dem heiligen Aloisius. Die Besonderheit: Aloisius trägt blau-weiße Stutzen und Fußballschuhe. Das dokumentiert eine einzigartige Besonderheit: In kaum einer deutschen Stadt spielt Fußball so eine große Rolle wie hier.
Kruschinski würde Solhekol, den englischen Journalisten, gerne einladen – zu einer Tour durch Gelsenkirchen. „Ich würde ihm aber auch sagen: Ich zeige dir jetzt mal die richtigen Scheißecken von GE. Denn die kennst du ja noch gar nicht“, sagt er. Tatsächlich wurde im Krieg viel alte Bausubstanz zerstört. Und der Strukturwandel wirkt auch optisch immer noch nach. Längst nicht alle Industriebrachen konnten zu dem umfunktioniert werden, was im Ruhrgebiet nicht ohne Stolz als Industriekultur bezeichnet wird.
In jedem Fall hofft Kruschinski, dass es gelingt, die aktuelle Aufmerksamkeit zu nutzen. Dabei setzt er auch auf königliche Hilfe. „Nach dem Shithole-Trubel folgt König Felipe VI. meiner Einladung zu einer ausgedehnten #401GE-Mythos-Tour“, postete er am Mittwoch – wenn auch mit Zwinkersmiley. Tatsächlich hat sich der spanische König in Gelsenkirchen angesagt. Felipe ist eingefleischter Fan von Atlético Madrid, dem Arbeiterklub aus der spanischen Hauptstadt. Er müsste gut nach Schalke passen.