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Weinland Frankreich Jahrgang 2018/19

Wundern über das Wunder

Schon im Weinberg kann ein Winzer einschätzen, welche Qualität er ernten wird Schon im Weinberg kann ein Winzer einschätzen, welche Qualität er ernten wird
Schon im Weinberg kann ein Winzer einschätzen, welche Qualität er ernten wird
Quelle: Getty Images/Fernand Ivaldi; Bearbeitung: Welt am Sonntag
Zwei derart extreme Jahrgänge wie 2018 und 2019 gab es selten in Frankreichs Weinregionen. Sintfluten und Hitzewellen ließen die Winzer um ihre Ernte zittern. Aber was sie dann einbrachten, war eine einzige Überraschung.

Sie hatten keine Chance und haben sie genutzt. Das Jahr 2019 wird unter Frankreichs Winzern eingehen als das Jahr der Paradoxe, als das Jahr, in dem aufgrund der Wetterphänomene ein Desaster zu erwarten war und am Ende ein Wunder geschah. „Alle Praktiken, die uns sonst beste Trauben bringen, haben uns dieses Jahr bestraft“, sagt Olivier Horiot, einer der aufsteigenden Sterne unter den Winzern der Champagne.

Eigentlich und unter halbwegs normalen Umständen gelingt es Horiot, mit dem Entknospen die Rebstöcke zu belüften und den Ertrag zu mäßigen, was die Reben vor Krankheiten schützt. Eigentlich. Doch 2019 schien alles wie verhext. Bitterer Frost im Frühjahr und grillende Hitze im Sommer schufen eine verkehrte Welt. „Es ist wie eine Art Trugbild: In diesem Jahr hatten die am schlechtesten bearbeiteten Weinberge die schönsten Trauben.“ Niemand hätte noch im Sommer an das Wunder geglaubt, das im Herbst folgen sollte.

„Die Frühjahrsfröste vernichteten 20 Prozent der Knospen“, berichtet Horiots Kollege Pierre Larmandier von der Côte des Blancs. „Es blieb kalt bis Mitte Juni. Schließlich grillte der Hitzesommer zahlreiche Trauben samt der Blätter, was ich in meinen 30 Jahren Berufserfahrung noch nie erlebt habe.“

45,9 Grad Celsius im Schatten

Sollte sich jemand nicht mehr an den just vergangenen Sommer erinnern, hier ein paar Zahlen aus unserem Nachbarland: 42,8 Grad Celsius in Avignon am 28. Juni, im nahen Gard waren es sogar 45,9 Grad. Angesichts solcher Glutöfen erlitten 70 Prozent der Reben von Olivier Horiot Sonnenbrandschäden. Und das nicht irgendwo, sondern in den besten Lagen seiner Weinberge. Zwar wurden Trauben nur selten so extrem betroffen, doch reduzierten Hitze und Trockenheit die Erträge fast überall. Und in manchen Regionen kamen noch Minustemperaturen hinzu.

Als ob sich alles, wirklich alles gegen die französischen Winzer verschworen hätte, trat dann auch noch eine weitere Plage auf den Plan: Die Fauna schien der Flora den letzten Rest geben zu wollen. Nicht die bekannten Schädlinge, sondern zunehmend invasive Arten treiben in den Weinbergen inzwischen ihr Unwesen. Neben Wildschweinen finden sich plötzlich Maiszünsler – ein Falter, einst in Nordafrika und Südeuropa beheimatet – und aus Südostasien stammende asiatische Hornissen im Wein.

„Jetzt sehen wir, wie dieses natürliche Milieu sich durch die Effekte der Klimaveränderung und durch invasive Schädlinge stark verändert“, sagt Jean Orliac von der Domaine de l’Hortus in Pic Saint-Loup. Dabei sei es in den letzten drei Jahrzehnten zunehmend gelungen, eine an das natürliche Milieu angepasste Landwirtschaft zu verwirklichen. Doch „trotz des zurückgelegten Wegs scheinen die zu bewältigenden Herausforderungen weder weniger noch kleiner zu werden. Aber das macht unseren Beruf nur umso spannender.“

Sintfluten im Frühjahr

Sich so kämpferisch wie Jean Orliac zu geben, mag angesichts mancher Wetterextreme nicht der schlechteste Weg sein. Dennoch darf dabei nicht vergessen werden, wie viele Existenzen aus dem Weinanbau durch den Klimawandel bedroht sind. Stumme Zeugen des Kampfes ums Überleben mancher Weinbauern im Vorjahr sind zum Beispiel die 2018er Rotweine, die dieser Tage in den Handel kommen.

Als das Frühjahr 2018 mit häufigen, teils sintflutartigen Regenfällen begann, die bis in den Juni anhielten, rutschte die Moral der Winzer in Bordeaux und anderswo ins schier Bodenlose. Peronospora, der Falsche Mehltau, schlug unbarmherzig zu. Die Pilzkrankheit befällt Blätter, Triebspitzen und junge Beeren. In der Folge verkümmern die Blätter und der Rebstock wirft sie ab, während die kleinen Beeren sich violett verfärben und vertrocknen. Ertrags- und Qualitätseinbußen sind dann unvermeidbar.

Wer damals nicht sofort reagierte, hatte das Nachsehen. Problematisch war dies vor allem für Biowinzer und -dynamiker, die den Schädling prinzipiell nicht chemikalisch bekämpfen dürfen. Château Pontet-Canet in Pauillac und Château Palmer in Margaux etwa wurden hart getroffen, ihre Erträge auf zehn bzw. elf Hektoliter pro Hektar reduziert. Auch in der Provence, im Languedoc und im Roussillon wurden viele Winzer von den Attacken der Peronospora überrascht, mit der sie bislang wenig Erfahrung gemacht hatten.

Sonnigster September seit 60 Jahren

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Andererseits, und damit kommen wir zur Wunderwelt des Weines, führten ein feuchtes Frühjahr und ein heißer Sommer hier zu oft leichteren, sehr fruchtigen und angenehmen Roten. Zumal der sich ab Mitte Juli einstellende heiße Sommer mit einem der sonnigsten September seit 60 Jahren das Blatt wendete und dank eher kühler Nächte eine optimale Traubenreife brachte. Gerade für Rotweine bedeutet das viel Farbe, Frucht und feine Tannine und damit einen ausgezeichneten Jahrgang. Beide Châteaux zahlten zwar bitteres Lehrgeld, doch am Ende zählen ihre Weine zu den Überfliegern unter den Crus Classés im Jahrgang 2018.

Lachende Gesichter gab es auch in der Champagne, wo man nach einem katastrophalen Jahr 2017 eine äußerst reiche Ernte mit ausgezeichneten Pinots Noirs und Meuniers einfuhr. Ähnliches gilt für Chablis. Nach schweren Frostverlusten 2016 und 2017 herrscht Erleichterung über den großzügigen, fruchtbetonten Jahrgang 2018.

„Unser Glück war, dass der heiße Sommer die Trauben zur Reife brachte“, kommentiert Hervé Tucki, Botschafter der großen Genossenschaft La Chablisienne. „Was die Qualität angeht, denken wir an 1982. Nur wissen wir heute besser mit den Trauben umzugehen.“ Die jetzt aktuellen Chablis Premiers Crus belegen dies eindrucksvoll.

Trauben wie aus dem Bilderbuch

Gab es 2018 allen Unkenrufen zum Trotz ein kleines Wunder, verblüffte 2019 ein weiteres Mal trotz reichlicher Wetterextreme. Als es an die Lese ging, waren die Trauben wie aus dem Bilderbuch, vollreif, doch mit schöner Säure und einer verblüffenden Ausgewogenheit. Nicht nur in der Champagne, auch im Elsass, im Burgund und Beaujolais, an der Loire, im Bordelais und im Südwesten.

„In unserem Metier ist der von klimatischen Ereignissen verursachte Stress nicht neu“, sagt Sébastien Jaume, verantwortlich für Keller und Weinberge bei den Vignobles Alain Jaume im südlichen Rhônetal, „aber diese Saison brachte ganz besondere Überraschungen: Die Rotweine zeigen eine superbe aromatische Intensität, viel Tiefe und sehr feine Tannine. Es ist die Art von Jahrgang, die in Châteauneuf-du-Pape niemanden gleichgültig lässt.“ Es gleicht einem Wunder, wie der Wein aus Frankreich den Wetterkapriolen trotzt.

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