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Städtereisen Liebeserklärung an Hamburg

Wild, frei und ein bisschen wie Disneyland

Man fährt die monotone Autobahn entlang, und dann tauchen sie plötzlich auf: Container, Schiffe und Kräne, die sich auf wundersame Art in die Poesie der Stadt fügen. Wie sich unser Autor auf einen Schlag in Hamburg verliebte.
Die Schönheit von Hamburg begreift man erst richtig, wenn die Sonne untergeht Die Schönheit von Hamburg begreift man erst richtig, wenn die Sonne untergeht
Entflammt: Die Schönheit von Hamburg begreift man erst richtig, wenn die Sonne untergeht
Quelle: Getty Images/fhm

Nachts, an der Elbe, machen die Containerkräne Geräusche, die wie ein seltsames Weinen klingen. Sie stehen orangefarben gegen einen blauschwarzen Himmel, die Luft ist ein duftiges Laken, und es geht ein Wind, der alle Sorten von Hamburgern eint, der Standesunterschiede aufhebt und Gehaltsklassen verwischt: Er zippelt an den Hermès-Tüchern der Hautevolee, zaust die geölten Bärte der Generation Y und fährt in die Lagerfeuer der Camper und Studenten, die dasitzen, Astra aus der Flasche trinken und alles grillen, was nicht bei drei auf dem Baum ist.

Man sieht den Mond und die Sterne, hört das Knistern der Lagerfeuer und das Lachen glückstrunkener Menschen, das Klirren der Gläser. Im Sommer ist es wie sonst nur in der Silvesternacht oder beim Hafengeburtstag: Die Nacht führt sie alle zusammen, am Ufer der Elbe; die einen an den warmen Asphalt bei den Landungsbrücken, die anderen an den Sandstrand am Falkensteiner Ufer in Blankenese und eine ganz andere Sorte wieder auf die Stufen der neu geschaffenen Terrassen und Plätze der HafenCity.

Am Elbstrand in Hamburg am Abend
Entspannt: Am Elbstrand wärmt ein Lagerfeuer an einem kühlen Sommerabend
Quelle: pa/dpa/Bodo Marks

Wie ein Säulendiagramm zur Veranschaulichung gesellschaftlicher Gruppen säumt die Hamburger Bevölkerung den Flusslauf, überragt von der Erhabenheit der Containerkräne, die nichts beweisen wollen, sondern einfach sind – und sich deswegen auf wundersame Art in die Poesie einer Stadt fügen, die man erst begreift, wenn es dunkel wird.

Der Containerhafen verzaubert wie Disneyland

Bei mir jedenfalls hat alles damit angefangen. Mit diesen Kränen. Vielleicht sind Sie mal Richtung Elbtunnel nach Hamburg gefahren, eine monotone Autobahn entlang, die nichts zu bieten hatte außer gleichmäßigen Fahrgeräuschen und Lichtern, die in betäubender Regelmäßigkeit an Ihnen vorbeiflogen. Vielleicht dachten Sie gerade daran, etwas zu kaufen. Ein Eis vielleicht, um nicht einzuschlafen.

Und plötzlich, als tauchte vor Ihnen eine neue Welt auf, erhebt sich dieser Containerhafen aus dem Dunkel, und Sie möchten sich die Augen reiben. Weil Sie sich wie in Disneyland fühlen. Nicht ganz so bunt, nicht ganz so schrill, aber dennoch verzaubert.

Kräne bei Sonnenuntergang am Hamburger Hafen
Erhaben: Kräne bei Sonnenuntergang am Hamburger Hafen
Quelle: Getty Images/Westend61

Es war an einem zweiten Weihnachtstag, als ich zum ersten Mal nach Hamburg gefahren bin. Wir waren auf einem Zweiter-Weihnachtstag-Verwandtschaftstreffen, mit selbst gemachter Stachelbeercremetorte und Kaffee und zotigen Witzen, mit all der Enge und den beklemmenden Gefühlen, die von Cordsitzgruppen und Wurzelholzmännchen auf Fernsehgeräten ausgehen; es muss zwischen dem dritten Kaffee und dem ersten Bier gewesen sein; die Schnittchen waren kurz davor, ins Wohnzimmer getragen zu werden, Salzstangen steckten im Käse, und Gurkenhälften durchweichten die Salami, als ich meine Cousine ansah und verstand: Raus hier. Nur weg. Das ist das Ziel.

Wir drückten also Papierservietten mit Tannenbäumen gegen unsere Münder, schoben die Stühle, auf denen wir saßen, nach hinten und sagten: „Wir fahren.“ „Wo wollt ihr denn hin?“, fragten unsere Verwandten. „Nach Hamburg“, sagte meine Cousine, weil ihr nichts Besseres einfiel. Und: „Wir kommen morgen wieder.“

Unsere Verwandtschaft schaute ungläubig. Kuchengabeln und Gläser und Tassen verharrten auf halbem Wege zum Mund, und eilig nickend schob ich nach: „Ja. Nach Hamburg. Wir fahren nach Hamburg. Und morgen kommen wir wieder.“

Alles total wild und frei in der Hafenstraße

Ich weiß nicht, ob ich zu dem Zeitpunkt schon mal daran gedacht hatte, nach Hamburg zu fahren, aber Hamburg klang gut, also stiegen wir in den Wagen und fuhren los. Als wir auf der Autobahn waren, drückte ich ein Bad-Religion-Tape ins Kassettendeck – und spätestens jetzt merken Sie: Dieser zweite Weihnachtstag ist ganz schön lange her.

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Es war die Zeit, in der die Hamburger Hafenstraße noch jeden Abend in den Nachrichten vorkam und wir Lederjacken trugen. Ich glaube, wir kamen uns ziemlich verwegen vor, mit unseren Lederjacken und Bad Religion im Kassettendeck, so plötzlich dem Schoß unserer Verwandtschaft entflohen, aus dem überheizten Wohnzimmer in die Kälte dieses zweiten Weihnachtstags.

Wir hörten „2lst Century Digital Boy“ und berauschten uns an unserer Wildheit. Meine Cousine sprach von Leuten, die sie in der Hafenstraße kenne, von einer Kneipe, die Störtebeker heiße und eigentlich gar keine Kneipe, sondern bloß eine Bretterbude sei, die die Hafenstraßenbewohner errichtet hätten, alles total wild und total frei.

Wilde Zeiten: Hausbesetzer in der Hamburger Hafenstraße im Oktober 1986
Wilde Zeiten: Hausbesetzer in der Hamburger Hafenstraße im Oktober 1986
Quelle: pa/rtn - radio t/rtn, peter wuest

Wild und frei, das war genau das, was ich an diesem Abend wollte, und so bekam ein Lebensgefühl für mich zum ersten Mal ein Ortsschild. „Hamburg“ stand darauf, und es verdeckte alles, was ich bisher mit der Stadt in Verbindung gebracht hatte, ohnehin nicht mehr als eine blasse Mischung aus Hans Albers, den Beatles und einem langweiligen Ehepaar, das irgendwie mit den Eltern meiner Cousine befreundet war.

Ganz plötzlich verliebt in Hamburg

Als kurz vor Hamburg ein Schild mit der Aufschrift „Tötensen“ kam, imitierte meine Cousine ein Monster; ihre Hände erstarrten zu Krallen, und mit Grabesstimme sagte sie: „Tööötensenn!“, was so ähnlich klang wie ein alkoholvernuscheltes „Töten Sie ihn“. Zu ihrer Ehrenrettung muss ich hinzufügen, dass Dieter Bohlen damals wohl noch nicht dort wohnte, und selbst wenn, hätten wir es nicht gewusst.

Sowieso wussten wir eigentlich gar nichts (was, wie gesagt, nicht die schlechteste Art ist, sich einer Stadt zu nähern), und gerade als ich mich fragte, wo wir eigentlich übernachten sollten, tauchte Hamburg vor uns auf wie ein gigantischer Sonnenuntergang.

Die Nacht erstrahlte in orangefarbenem Licht, ein riesiges Gelände aus Schiffen, Kränen, Containern hob sich aus der Dunkelheit, und plötzlich war ich verliebt. Noch bevor ich ausgestiegen war. Noch bevor ich den Wind gespürt hatte. Und lange bevor ich den eigentümlichen Charme meiner zukünftigen Mitbewohner schätzen lernte.

Der Text ist ein Auszug aus dem gerade erschienenen Buch „Gebrauchsanweisung für Hamburg“ von Stefan Beuse, 218 Seiten, Piper Verlag, 15 Euro.

Stefan Beuse: „Gebrauchsanweisung für Hamburg“, 218 Seiten, Piper Verlag, 15 Euro
Quelle: Verlag

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