Am Wassergraben, wo früher das Vieh getrunken hat, stehen jetzt schmiedeeiserne Bänke auf dem Kopfsteinpflaster. Dahinter ragt eine imposante Hauswand in den Herbsthimmel. Roter Backstein, weißes Holz, graubraunes Reet. Was für ein Dach! Was für ein Giebel! Was für ein Ort!
„Dit Huus is mien un doch nich mien, de no mi kummt nennt ook noch sien“ steht über der Tür vom Harmshof, einem original erhaltenen niedersächsischen Fachhallenhaus aus dem 17. Jahrhundert im Alten Land: „Das Haus ist mein und doch nicht mein, der nach mir kommt, nennt es auch noch sein“. Aktuell sind das die Stölkes, eigentlich schon seit Jahrhunderten, wenn auch unter wechselnden Namen.
Am Wochenende servieren sie im kleinen Hofcafé oder unter alten Eichen selbst gebackenen Butter- oder Apfelkuchen, ansonsten sind sie Obstbauern. Und so soll es auch bleiben, hofft die Familie. Ihnen ist ein bisschen mulmig bei dem Gedanken, dass ihr Hof in Jork durch den ZDF-Zweiteiler „Altes Land“ zu bekannt wird und zu viele Fans anlockt.
Der Film spielt ganz in der Nähe von Hamburg
Natürlich ist es kein Wunder, dass die Produktionsfirma als einen Drehort für die Verfilmung von Dörte Hansens Roman „Altes Land“ genau diesen Hof ausgesucht hat. Ist er doch ein Ort, an dem die Zeit stehen geblieben scheint, die Idylle sich wie eine warme Decke um die Besucher schmiegt, obwohl die Metropole Hamburg nur wenige Kilometer entfernt ist.
Der mit Iris Berben, Nina Kunzendorf, Peter Kurth und Matthias Matschke hochkarätig besetzte Film erzählt die Geschichte dreier Frauen aus drei Generationen. Eine ostpreußische Flüchtlingsfamilie wird 1945 bei einer alteingesessenen, vom Krieg weitgehend verschonten Obstbäuerin einquartiert.
Alte Wunden und Konflikte brechen später wieder auf, als eine junge Mutter ihr Hamburger Szeneviertel verlässt, ins Alte Land zieht und dort ihre Wurzeln sucht. Heimat, Flucht, Landlust und Landfrust, die Sehnsucht nach Sicherheit und Beständigkeit – diese hochaktuellen Themen werden berührend verhandelt.
Hauptdarstellerin Iris Berben, in Hamburg aufgewachsen, kannte das Marschland an der Unterelbe schon aus ihrer Kindheit: „Es war ein schönes Ritual, an Wochenenden in diese besondere Region zu fahren, um auf Bäume zu klettern, Äpfel und Kirschen zu pflücken“, sagt sie. „Vieles hat sich natürlich verändert, sich neuen Gegebenheiten angepasst. Aber die Menschen wirken unverändert. Sie sind gelassen, geerdet und direkt.“
Das Alte Land prägen über 20 Millionen Obstbäume
Menschen und ihre Höfe – eine besondere Verbindung, die viel von der Magie des gerade mal 30 Kilometer langen Landstrichs zwischen Hamburg-Francop und der Hansestadt Stade ausmacht. Er ist eines der größten zusammenhängenden Obstanbaugebiete nördlich der Alpen, geprägt von prächtigen Bauernhäusern, Prunkpforten und alten Kirchen.
Im Frühling überzieht eine duftende Blütenpracht in Weiß und Rosa das Alte Land, dann blühen hier über 20 Millionen Obstbäume. Im Herbst biegen sich die Bäume unter ihrer rot leuchtenden Last.
Ulrike Schubacks Familie lebt seit 1408 im Alten Land. Die gelernte Obstbaugärtnerin ist die Chefin auf ihrem Obstparadies-Hof in Jork. Viel Arbeit, viel Verantwortung, so beschreibt sie ihren Alltag. Aber auch viel Raum für Ideen.
Durch Corona ist ihr fast das komplette Veranstaltungsgeschäft weggebrochen. Aber ein anderes Angebot funktioniert gerade jetzt sehr gut: Picknick im Garten. „Dieses Konzept habe ich in Südafrika auf den Weingütern kennengelernt. Man bekommt einen lecker gefüllten Picknickkorb und kann damit an einem schönen Platz sitzen bleiben, so lange man will“, sagt Ulrike Schuback.
Noch bis Weihnachten bietet sie das Picknick an, auch mit wärmendem Feuer und in gemütlichen Räumen, sobald das wieder erlaubt ist, bis dahin ist die Korbausgabe aber auch so möglich. „Und dann habe ich hoffentlich irgendwann mal einen Tag frei“, sagt sie lachend.
Wo jeder Graben Handarbeit ist
Schubacks Vorfahren haben das Weide- und Ackerland einst dem Wasser abgetrotzt. Jeder der zigtausend Entwässerungsgräben in den drei Deichverbänden (zwei gehören zu Niedersachsen, einer zu Hamburg) ist mit der Hand gegraben. Das erklärt vielleicht, warum die Menschen so an dem Land hängen.
Jeder, der hier siedeln wollte, bekam eine holländische Hufe Land geschenkt, das sind rund 20 Hektar. „Überall steht ja, dass das Alte Land ursprünglich von Holländern besiedelt wurde, aber das ist Quatsch“, sagt Gästeführer Dieter Schilling. Es wurden holländische Entwässerungstechnik und Maßeinheiten verwendet.
Klar, auch Holländer siedelten sich hier an – aber ebenso andere Menschen, die der Knechtschaft und Leibeigenschaft des späten Mittelalters entkommen wollten. Die vielen weißen Holzbrücken erinnern noch an das holländische Erbe.
Das bereits urbar gemachte, von Gräben durchzogene Gebiet nannten die Siedler „altes Land“, das noch nicht bearbeitete „neues Land“. Und irgendwann war das gesamte Gebiet dann eben „altes Land“.
Der Roman von Dörte Hansen wurde zum Bestseller
Dieter Schilling stammt aus Grünendeich, dem Ort, in dessen Nachbarschaft auch die Autorin Dörte Hansen eine Zeit lang gelebt hat. „Wir haben das zuerst gar nicht mitbekommen mit dem Roman“, sagt er. Aber dann gingen die Verkaufszahlen durch die Decke, das Buch stand monatelang ganz oben auf den Bestsellerlisten.
Über eine Million Exemplare des Romans sind seit seinem Erscheinen 2015 verkauft worden. Auf einmal war der literarische Scheinwerfer eines ganzen Landes auf die spröde Landschaft und ihre eigenwilligen Bewohner gerichtet. Sind wir wirklich so wie im Buch beschrieben, haben sich manch alteingesessene Altländer gefragt. So stolz und so stur?
Der Roman habe die Region geradezu wachgeküsst, sagen die einen. Er habe die Menschen bloßgestellt, sagen die anderen. Aber nicht unbedingt die, die dort leben. Sondern auch die Städter, die ihre Sehnsüchte nach der Landidylle, nach dem Einfachen, Natürlichen erfüllen wollen mit selbst gepflückten Äpfeln oder einem Leben, das aussieht wie in einer der vielen „Landliebe“-Hochglanzzeitschriften.
Darum sollten sie Äpfel möglichst roh essen
Ein typischer Apfel enthält mehr als 100 Millionen Bakterien. Hotspots der Bakterien sind die Samen und das Fruchtfleisch. Sie besiedeln vorübergehend unseren Darm und sind somit wichtig für eine gesunde Darmflora.
Quelle: WELT/Nicole Fuchs-Wiecha
Das Glück kann ein Marmeladenglas mit nostalgischem Etikett sein. Oder ein Apfelkuchen, serviert auf einem lässig dekorierten Holztisch. Dass Besucher ihr Herz verlieren an diese Weite, an die Beständigkeit, die die alten Häuser ausstrahlen, daran sind die Menschen hier gewöhnt. An die vielen Radausflügler, Blütengucker und Erntefestbesucher sowieso.
Es ist aber auch zu schön, zwischen dickköpfigen Schafen an den Deichen zu radeln, die dicken Pötte auf der Elbe gen Nordsee ziehen zu sehen und schon mal Ausschau zu halten, in welchem Bauerngarten die nächste Einkehr stattfinden könnte.
Äpfel mit Herz zum Selbstpflücken
Familie Lühs hat ihren Generationen-Betrieb deshalb zu einem Erlebnisbauernhof umgestaltet. „Es gab eine Zeit, als die Preise für Äpfel sehr schlecht waren. Da hatte mein Vater die Idee, ein Herz auf die Früchte zu bringen – mithilfe einer herzförmigen Schablone, sodass die Schale an dieser Stelle nicht rot wurde“, erzählt Junior-Chefin Meike Lühs. Schablone ab, Herz darunter – geboren war der Herzapfelhof.
„Die Selbstpflücker wollen nicht nur Bio-Äpfel ernten, sondern auch mal eine Suppe essen, über den Hof laufen, eine Führung mitmachen und etwas über Apfelsorten erfahren“, sagt Meike Lühs. Erlebnisse in der Natur und alte Obstsorten, darin sieht sie die aktuellen Trends.
Mit alten Sorten beschäftigt sich auch Kerstin Hintz auf ihrem Biohof Ottilie. Sie baut Renette oder Goldparmäne an. Für ihr Café backt sie daraus vegane Kuchen, aber auch Klassiker wie Apfel-Schmand-Torte. Innovativ war außerdem ihr Sommer-Pop-up-Restaurant „Farm to Table“, das sie gemeinsam mit Sternekoch Jens Rittmeyer aus dem benachbarten Buxtehude in ihrem Garten eröffnete.
Ja, das Land erhalten und aus den Höfen etwas machen, das können die Menschen hier. Sie mögen stolz und stur sein. Aber sie sind dabei auch klug.
Immer mehr Landwirte wechseln ins Tourismus-Geschäft
Agrotourismus nennt sich der Urlaub auf dem Bauernhof. Mittlerweile verdient jeder vierte Landwirt mit Urlaubern auf seinem Hof mehr als die Hälfte seines Jahresumsatzes. Ein zweites Standbein, das sich lohnt.
Quelle: WELT / Stefan Wittmann
Tipps und Informationen
Anreise: Am bequemsten kann man das Alte Land mit dem Auto erkunden (über die A-7-Abfahrt HH-Hausbruch), am schönsten mit dem Fahrrad. Von Hamburg-Landungsbrücken, Blankenese und Wedel fahren Fähren nach Finkenwerder, Cranz und Lühe.
Unterkunft: Idyllisch nächtigt man in den Gästeunterkünften, die viele Höfe anbieten, etwa „tomDiek“ in Jork-Königreich (Doppelzimmer ab 65 Euro, ferienhof-tomdiek.de) oder das Altländerhaus „Zur Post“ am Elbdeich in Cranz (FeWo ab 65 Euro/Nacht, gasthaus-zur-post-cranz.de). Es gibt nur wenige Hotels in der Region, eine gute Adresse ist das „Navigare“ in Buxtehude, in dem auch Sternekoch Jens Rittmeyer sein Restaurant hat, Doppelzimmer mit Frühstück ab 114 Euro, (hotel-navigare.com).
Schmecken & entdecken: Noch bis Weihnachten bietet Ulrike Schuback ihr Hof-Picknick an, gefüllter Korb für 26 Euro pro Person, die Korbausgabe ist auch im Lockdown erlaubt (obstparadies-jork.de). Kerstin Hintz verkauft in ihrem Café und Hofladen Köstlichkeiten aus alten Apfelsorten (biohof-ottilie.de). Achtung, viele Hofcafés sind nur am Wochenende geöffnet, über coronabedingte Einschränkungen informieren die Betreiber. Der Harmshof, ein Drehort von „Altes Land“, ist bereits in der Winterpause.
Weitere Infos: tourismus-altesland.de
TV-Tipp: Der Zweiteiler „Altes Land“ läuft am 15. und 16. November jeweils um 20.15 Uhr im ZDF (zdf.de).
Dieser Text ist aus der WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gerne regelmäßig nach Hause.