Gesellschaft

Meinung: Warum das Abaya-Verbot in Frankreich anti-feministisch ist

Zum Start des neuen Schuljahrs hat Frankreichs Bildungsminister Gabriel Attal das Tragen einer Abaya, also einem lockeren Überkleid, an den Schulen des Landes verboten. Wieso haben Gesetze, die vorschreiben, wie Frauen sich in der Öffentlichkeit zu bekleiden haben, immer noch Bestand?
Halima Aden in Abaya beim Event von British VOGUE x LuisaViaRoma in Florenz
Halima Aden in Abaya beim Event von British VOGUE x LuisaViaRoma in FlorenzJacopo M. Raule/Getty Images

Abaya-Verbot: Frankreich verbietet das Gewand für Schülerinnen

"Ich habe entschieden, dass in der Schule keine Abaya mehr getragen werden darf", sagte Frankreichs Bildungsminister Gabriel Attal dem französischen Fernsehsender TF1 letzte Woche. Unglücklich formuliert oder doch eine bewusste Entscheidung eines überlegten Mannes? Heute trat seine Regelung mit dem Start des Schuljahrs dann in Kraft. Die Religionszugehörigkeit von Schülerinnen und Schülern soll beim Betreten des Klassenraums nicht zu erkennen sein; für den jüngsten Bildungsminister in der Geschichte Frankreichs ist das Tragen der Abaya von muslimischen Schülerinnen nicht vereinbar mit dem Laizismus. Nur kurz zur Erinnerung: Der französische Laizismus bezeichnete ein Programm der aktiven Zurückdrängung der Kirche aus dem staatlichen und gesellschaftlichen Leben, vor allem mit Fokus auf das öffentliche Bildungssystem. Seit 1905 existiert in Frankreich das “Gesetz über die Trennung von Staat und Kirche”. Während die Laizität damals für den Frieden im Land sorgen sollte, wird sie seit den Neunzigern missbraucht, um frauenfeindliche und antimuslimische Politik zu betreiben.

Zu knapp, zu lang: Sexism in a nutshell

Doch was genau ist eine Abaya? Im Gegensatz zur fälschlichen Zuschreibung des 34-jährigen Bildungsministers hat die Abaya keine religiöse Bedeutung. Das lange und locker getragene Kleid oder Überkleid ist in unseren Breitengraden auch als Maxikleid, Kaftan oder Kimono zu verstehen und ist in Nordafrika oder im Nahen Osten ein beliebtes Kleidungsstück, dass sich seit Jahren auch in vielen Kollektionen der wegweisenden europäischen Modelabels findet. Laut Gabriel Attal soll also die religiöse Zugehörigkeit nicht erkennbar sein, doch wie liest man eine Religion aus einem Kleid ab, wenn das besagte Kleid von jeder Frau getragen werden kann? Wird nun jede Frau als muslimisch deklariert, die ein Maxikleid oder einen Kaftan trägt?

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Frankreich ist in den letzten Jahren immer wieder mit patriarchalen Kleidungsverboten aufgefallen. Bestes Beispiel dafür war die Riesendiskussion 2017 um den Burkini, einen Ganzkörperbadeanzug mit einer abnehmbaren Kopfbedeckung. Eine muslimische Frau im Burkini am Strand in Nizza, umringt von Polizisten, die sie nötigten, den Schwimmanzug auszuziehen – das Bild ging um die Welt, die Diskussion war wieder entflammt, was feministische Kleidung sein soll und was nicht. Mittlerweile haben wir das Jahr 2023 und wir diskutieren immer noch, was Frauen tragen sollen, nicht dürfen und können. Auf Social-Media-Kanälen wie TikTok äußern sich zig französische Schülerinnen und kritisieren die antifeministische Politik, die sich lediglich gegen Frauen, insbesondere muslimische Frauen, richtet. Die meisten Schulen erlegen den Schülerinnen neben den gesetzlichen Verboten noch zusätzliche Vorschriften zum Aussehen. 2020 sorgte eine Schule in Dax im Südwesten Frankreichs für Furore, als Schülerinnen am Eingang nach Ferienende mit dem Schild "tenue correcte exigée", also "angemessene Kleidung erforderlich", begrüßt wurden. Das bebilderte Schild illustrierte zwei Frauen: eine trug ein Oberteil, welches ihren Bauchnabel freiließ, und die zweite zeigte sich in einem Minirock. Beide Fotos waren rot durchgestrichen. Der Grund? Schülerinnen sollten sich angemessen kleiden, um nicht männliche Mitschüler abzulenken oder sexuell belästigt zu werden. Röcke und Kleider, die zu kurz sind, fallen in die Kategorie nicht angemessen. Ist die Kleidung zu lang oder verdeckend, ist man “zu muslimisch”. Für die einen zu reizvoll, für die anderen nicht genug - Misogynie par excellence. Spagettiträger, bauchfrei, Minirock, Turban, Kopftuch, Kreuz an der Kette oder Kippa: alles verboten für französische Schülerinnen und Schüler.

Wo enden individuelle Freiheit und Selbstentfaltung und wo fängt Laizismus an? Die männliche Besessenheit davon, wie sich eine Frau zu kleiden hat und wie viel sie von ihrer Haut zeigen soll, hat eine lange Geschichte. Dieses Phänomen wird auch als “Male Gaze” bezeichnet, der männliche Blick. Der Begriff stammt aus der feministischen Filmtheorie und beschreibt, wie durch den männlichen Blick eines heterosexuellen Mannes ein patriarchales Bild der Frau gezeichnet wird und sie objektifiziert wird. Knappe Kleidung, ein schlanker Körper mit großer Oberweite – was jahrzehntelang eine gängige Schönheitsvorstellung war, fußt auf dem Male Gaze.

Modest Fashion als Möglichkeit des Empowerments

Mit diesem Gedanken und als Antwort auf die Lücke in unserer patriarchalen Gesellschaft und der Modewelt, erfreute sich ab ca. 2017 Modest Fashion wachsender Beliebtheit, ein Begriff, der auf Instagram etwa durch muslimische Influencer:innen wie Habiba Da Silva und Dian Pelangi, aber auch orthodox-jüdische wie Chaya Chanin and Simi Polonsky, Verbreitung fand. Er beschreibt weniger figurbetonte und eher bedeckende Kleidung, die dennoch stylish und modern ist. Der Style lässt sich schwer kategorisieren, weil viel kombiniert und ausprobiert wird und jede Frau einen persönlichen Zugang zu Modest Fashion hat. Internationale Aufmerksamkeit bekam er auch über das Model Halima Aiden, die 2016 beim US-amerikanischen Schönheitswettbewerb “Miss Minnesota” mit Burkini statt Bikini auftrat. Selbst Schauspielerinnen wie die Olsen-Twins, Emma Watson oder Herzogin Kate wurden in “Vanity Fair” mit ihrem Stil schon als inoffizielle Ikonen der Modest Fashion beschrieben. Laut “Forbes” geben muslimische Frauen weltweit über 300 Milliarden Dollar für Modest Fashion aus. Der “DinarStandard State of Global Islamic Economy Report 2022” prognostiziert, dass der Modest-Fashion Markt bis 2025 auf 375 Milliarden Dollar anwachsen wird – davon profitieren übrigens durchaus auch französische Häuser wie Dior, Chanel, Louis Vuitton und Yves Saint Laurent, sie seit Jahren Abayas und Kollektionen für muslimische Kundinnen und Kunden entwerfen.

Dior Ready-to-Wear für Frühjahr 2021

Gorunway
Gorunway

Diese modische Bewegung stellt für viele Frauen eine Möglichkeit des Empowerments dar. Die Burkini-Debatte schwappte 2017 auch nach Deutschland über; auch hier wurden Stimmen laut, die den Burkini nicht in öffentlichen Bädern sehen wollten, mit den Argumenten, dass sie unhygienisch seien und die Frauen unterdrückten. Mal abgesehen davon, dass Burkinis aus demselben Stoff produziert werden wie bei Bikinis auch, was ist so skandalös an ein bisschen mehr Textil beim Schwimmen? Man befreit Frauen nicht von vermeintlichen Zwängen, indem man ihnen neue auferlegt. Es gibt auch feministische Stimmen, die den Burkini und das Kopftuch nicht gutgeheißen. Ihr Ansatz lautet: Wofür hat der Feminismus der 68er-Generation gekämpft, wenn Frauen in Deutschland heutzutage verschleiert in der Öffentlichkeit auftreten oder schwimmen können? Dabei ging es darum in Wahrheit nie: Die Frauen haben damals nicht für den Minirock gekämpft, sondern dafür, was dahintersteckt. Nämlich, dass patriarchale Strukturen vorgeben, was Frauen zu tragen haben und was nicht. Entscheidet sich eine muslimische Frau für Culottes, ein Kopftuch oder ein blickdichtes Kleid, ist sie unterdrückt, armselig, rückständig, erzkonservativ – so die Annahme. Bei nicht-muslimischen Frauen wird der Style als layered Look, Bohemian Chic oder Tom-Boy-Outfit bezeichnet. Das ist ein Doppelstandard. Modest Fashion hat also in diesem Sinne den Feminismus redefiniert oder versucht zumindest, uns an den Ursprung davon zu erinnern: alles kann, nichts muss. Hier geht es nicht darum, wer wem zu gefallen hat, sondern darum, wie wohl man sich in der eigenen Haut und dem Outfit fühlt und darum, die Freiheit zu haben, sich so zu zeigen, wie man möchte - frei von jeglicher Verurteilung. Egal, welche Größe, Hautfarbe, geschlechtliche Orientierung, Herkunft oder welcher Glaube, Modest Fashion unterliegt keinen Zwängen. Und: sie weicht von patriarchal geprägten Schönheitsvorstellungen ab, was naturgemäß besonders Männern sauer aufstößt. Denn Frauen kleiden sich damit bewusst nicht mehr für den männlichen Blick.

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In einer säkularen Gesellschaft die eigene Identität in all ihren Facetten anhand von Mode zu zeigen und auszuleben, gefällt nicht immer allen, besonders, wenn sie von der Norm abweicht. Modest Fashion inkludiert alle Frauen, unabhängig von Kultur, Religion oder Alter.

Besonders Social Media hat rund um Modest Fashion eine essenzielle Rolle gespielt: Nur so konnten Leute über den Trend des dezenten Stils im breiten Rahmen erfahren und können sich deswegen heute auch individuell ausdrücken – französische Schülerinnen aber nicht. Es herrscht die falsche Auffassung, dass Modest-Fashion-Trägerinnen jeden anderen Modestil als anstößig empfinden. Der Stil wird nur als zwangs-kaschierend debattiert; dabei wird außer Acht gelassen, dass Frauen sich ganz bewusst dafür entscheiden können, Teile ihres Körpers nicht zu zeigen. Feminismus bedeutet nicht, das Gegenteil von sexy und schön zu sein, sondern die Freiheit, selbst zu entscheiden, was, wie und wie viel man von sich zeigen will. Wir sollten eher den Fokus darauf lenken, woher diese Vorschriften kommen und vor allem von wem. Sich als aufgeklärt, emanzipiert und westlich zu bezeichnen ist hochproblematisch, wenn man gleichzeitig als Mann einer Frau verbieten will, sich zu aufreizend oder zu bedeckt zu zeigen. Wer entscheidet hier für wen? Und warum?

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Warum das Abaya-Verbot antifeministisch ist

Wir brauchen endlich ein Bewusstsein dafür, dass die Schönheitsnormen, die hierzulande bisher galten, in vielerlei Hinsicht sexistisch sind. Es wäre auch langsam Zeit, die westliche Brille abzulegen, die alle nicht-westlichen Schönheitsideale als unangemessen oder rückschrittlich betrachtet. Es sollte uns daher alle empören, wenn politisch über Frauenkörper entschieden wird, denn die Konsequenzen sind immer gravierend. Die aktuellen Debatten über Bekleidungsvorschriften oder Abtreibungen zeigen, dass Frauen und ihre Körper nicht sicher und entscheidungsfrei sind. Zu viel Stoff, zu wenig Stoff, zu lang, zu knapp, zu dick, zu dünn: es reicht.

Das Abaya-Verbot ist antifeministisch und entspricht nicht den Werten, die eine freie Demokratie verkörpern sollte. Das eigene sexistische, patriarchale und rassistische Weltbild mit dem Vorwand von Laizismus oder dem “Wir sind alle gleich”-Motto zu kaschieren, wird, besonders in Zeiten von Gen Z, nicht funktionieren.

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