Gesellschaft

Abtreibung: Warum die Entwicklung in den USA auch uns aufrütteln muss – trotz Streichung des "Werbeverbots"

Der Bundestag hat das “Werbeverbot” für Schwangerschaftsabbrüche aufgehoben. Das ist nur das Minimum, schreibt Nike van Dinther. Die aktuellen Entwicklungen in den USA zeigen, dass Frauenrechte noch längst nicht selbstverständlich sind
Frau schreit und demonstriert
Getty Images

Triggerwarnung: Dieser Text zum Thema Abtreibung und den aktuellen rechtlichen Entwicklungen dazu enthält Zitate, die für Betroffene aufwühlend sein können.

“Vergiss nie, dass es nur eine politische, wirtschaftliche oder religiöse Krise braucht, damit die Rechte der Frauen in Gefahr gebracht werden. Diese Rechte sind niemals als selbstverständlich zu betrachten, du musst dein ganzes Leben lang wachsam bleiben.”

Selten zuvor erschien mir dieser über die Buchdeckel hinaus bekannte Appell Simone de Beauvoirs dringlicher als an jenem 24. Juni 2022, an dem Feminist:innen in Deutschland gerade noch zaghaft die Abschaffung des Paragraphen 219a bejubelten, diesen Mäuseschritt der aktuellen Regierung, wo eigentlich ein Elefantentrampeln über misogyne Gesetze vonnöten wäre, als der Supreme Court in den USA nur wenige Stunden später das landesweite Recht auf Schwangerschaftsabbrüche kippte. Die berühmte Gleichzeitigkeit der Dinge führt sich damit wohl über Kontinente hinweg selbst ad absurdum. Aber alles der Reihe nach.

Ich schlage vor, an dieser Stelle für einen kurzen Augenblick die Augen zu schließen und sich das Bild einer fruchtenden Werbung ins Gedächtnis zu rufen, irgendeiner. Was sehen Sie? Haushohe Billboards, leuchtende Logos, prächtige Fotografien, Firlefanz? Oder anders gefragt: Können Sie sich vorstellen, dass ihre Gynäkologin in der aktuellen “Apotheken Umschau” mit erstklassigen Abtreibungs-Kenntnissen wirbt? Wohl kaum.

Es ist angebracht, lautstark den moralischen Kompass solcher Politiker:innen infrage zu stellen, die sich bis zuletzt wie eine Schar aufgeregter aber argumentativ schwacher Klammeräffchen am Paragraph 219a festhielt. Vergeblich. Der Aktivismus hat gesiegt, unermüdlichen Protagonist:innen wie Kristina Hänel sei Dank. Ärzt:innen dürfen künftig also endlich ungestraft ihrer beruflichen Pflicht nachkommen und umfassend über das Wo und Wie von Abtreibungen informieren – ein Meilenstein, der allerdings nicht zum Verweilen einlädt. Viel zu groß ist die Bedrohung von Rechts, viel zu salonfähig ist rückwärtsgewandter, sich auf christlich-katholische Werte berufender politischer Konservatismus, der den Fundamentalismus längst nicht mehr nur heimlich umarmt. Merkt euch das.

Warum das “Werbeverbot” eigentlich ein Informationsverbot ist

Bisher verbot der zutiefst misogyne Paragraph 219a jedenfalls jegliches “Werben für Schwangerschaftsabbrüche” – wohlgemerkt bereits seit 1933. Eine Jahreszahl, die viel früher hätte stutzig machen können – und im Zuge einer vielschichtigen Entnazifizierung sollen. Angetrieben von der "Erkenntnis der Wichtigkeit des Nachwuchses“ hegten die Nationalsozialsten eine ausgeprägte Angst davor, aufgeklärte Gynäkolog:innen könnten mit kommerzialisierten Abtreibungen den richtig großen Reibach machen und ebendeswegen die Vermehrung der eigenen Spezies gefährden. Man darf sich also durchaus darüber wundern, dass 219a erst jetzt verschwindet. Darüber, dass diese Form des offenkundigen Machtmissbrauchs überhaupt solange im Strafgesetzbuch manifestiert sein konnte. Oder man versteht, dass dahinter Anti-Feminismus mit System steckt. 

In Wahrheit ist das sogenannte “Werbeverbot” schon immer ein kalkuliertes “Informationsverbot“ im Deckmantel der Fürsorge gewesen. ”Wissen ist Macht" – und davon geben die in den Machtpositionen (also lange Zeit alte weiße Männer) oft nur ungern etwas ab. Der Paragraph 219a dient seinen Verfechter:innen als Schutzschild des Patriarchats. Es geht um künstlichen Machterhalt, darum, unbedingt die Kontrolle über den weiblichen Körper zu behalten, und den eigenen Zerfall zu verhindern, angetrieben durch die unaufhaltsame Selbstermächtigung anderer Geschlechter.

“Pro-life” ist Unsinn – und stigmatisiert Betroffene oft aggresivst

Warum auch sollten Mediziner:innen in ihren Praxen und auf ihren Webseiten über sichere Abtreibungsmethoden informieren dürfen, wo es doch sogenannte “Lebensschützer:innen” gibt, die besonders gut Bescheid wissen? “Ihr dreckigen Kindsmörderinnen habt den Tod verdient” las ich zum Beispiel in einem Forum, in dessen Schlund ich bei meiner Recherche zu Abtreibungskliniken in Berlin gelang, als ich 2017 trotz Spirale schwanger geworden war. Infolgedessen saß ich quasi unfreiwillig in der ersten Reihe vor der gigantischen Bühne, die Paragraph 219a den selbsternannten “Lebensschützer:innen” viel zu lange bot. “Pro-life”-Propaganda ist zwar Unsinn, aber für Menschen in Konfliktsituationen psychisch nur schwer auszuhalten. Studien haben herausgefunden, dass es tatsächlich mitnichten die Schwangerschaftsabbrüche als solche sind, die zu Depressionen führen, sondern deren fortwährende gesellschaftliche Stigmatisierung inklusive der dazugehörigen Auswirkungen. Wie etwa Schuldgefühle, wo keine sein müssten. Und schreiende Abtreibungsgegner:innen, wo keine stehen sollten.

Dass der Paragraph 219a bis zuletzt mitunter von der Annahme getragen wurde, man müsse Frauen insbesondere vor sich selbst beschützen, ist an Komik also kaum zu überbieten.

Wer 219a befürwortet, muss in letzter Konsequenz davon überzeugt sein, dass wir erstens völlig außerstande sind, verantwortungsbewusste Entscheidungen über unsere eigenen Körper zu treffen und zweitens annehmen, dass wir extrem leicht zu beeinflussen seien. Als hätte eine Barbara Schöneberger, würde sie zwischen Tagesschau und Tatort mit einem attraktiven Rabattcode für den nächsten “Abbruch to go” wedeln, allen ernstes Einfluss auf die Entscheidung für oder gegen das Austragen einer Schwangerschaft. Spoiler: Dem ist nicht so.

Nicht nur, dass nie jemand vorhatte, “zwei Abbrüche zum Preis von einem” durch die Prime Time zu posaunen, geschweige denn hochglanzpolierte Abtreibungsinstrumente oder Pillen auf Poster zu drucken – es wäre sowieso verschwendete Liebesmüh. Auch anders herum geht die Rechnung nicht auf: es gilt als erwiesen, dass ein Informationsverbot keineswegs zu weniger Schwangerschaftsabbrüchen führt. Wer abtreiben will, treibt ab. Die Frage ist nur, unter welchen Bedingungen. In Deutschland sind sie bis heute prekär.

Zwar sichert die Streichung von Paragraph 219a ungewollt Schwangeren künftig den Zugang zu Informationen aus seriöser, erster Quelle, nämlich den Ärzt:innen selbst. Nicht aber das Recht auf den Schwangerschaftsabbruch als solchen. Was viele nicht wissen: Abtreibungen sind in Deutschland bis heute illegal. Straffrei bleiben sie nur unter bestimmten Voraussetzungen. Der gebärfähige Unterleib ist immer noch Gegenstand fauler Kompromisse im Wahlkampf-Kalkül. Dabei frage ich mich, ob es überhaupt noch drängender werden kann, Paragraph 218, der Schwangerschaftsabbrüche seit 1871 verbietet und kriminalisiert, restlos zu streichen. 

“Roe v. Wade”: Die dramatische Illegalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in den USA

Mit gebrochenen Herzen blicken wir seit Freitag auf die Entscheidung des höchsten Gerichts der USA, “Roe v. Wade” zu kippen und das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche für ungültig zu erklären. Insgesamt 13 Staaten erließen noch am selben Tag die sogenannten “Trigger Laws”, die Abtreibungen auch bei Vergewaltigung und Inzest verbieten, insgesamt dürften etwas mehr als die Hälfte der 50 Bundesstaaten Schwangerschaftsabbrüche künftig verbieten. Margaret Atwood scheint demnach eine Art Orakel zu sein – auch mir kommt beim Studieren der jüngsten Entwicklungen zwangsläufig die auf ihren Romanen basierende Serie “A Handmaid’s Tale” in den Sinn. Staffel fünf erscheint im September. US-Amerikaner:innen leben schon jetzt in einer wahr gewordenen Dystopie, die im schlimmsten Fall nur noch eine kleine Krise von der eigentlichen Erzählung entfernt ist. Der Himmel verdunkelt sich.

Fakt ist: Viele Schwangere werden sterben, noch mehr als zuvor, vor allem solche, die ohnehin am stärksten von Marginalisierung und Diskriminierung betroffen sind. Jene etwa, die es sich nicht leisten können, auf andere Bundesstaaten oder Länder auszuweichen. Sie werden sterben, weil sie schwanger bleiben müssen. Sie werden an Eileiterschwangerschaften, Schwangerschaftsvergiftungen, Fehlgeburten oder unterlassener Hilfeleistung sterben. Mindestens aber werden sie zerbrechen. Daran, dass sie Kinder bekommen müssen, die sie nie wollten.

Solange sichere Schwangerschaftsabbrüche aufgrund der aktuellen Gesetzgebung kein elementarer Teil der Gesundheitsversorgung sind, wird die Versorgungssituation auch in Deutschland noch schlimmer werden. Die Zahl der Ärzt:innen, die Abbrüche vornehmen, geht seit Jahren dramatisch zurück, Studierende üben das Prozedere, wenn überhaupt, aus Überzeugung und in Eigenregie – an Papayas. Ach, wenn es doch wirklich nur um Früchte statt um Menschenleben ginge.

Was jetzt folgen muss: Weg mit Paragraph 218

Die Zeit drängt. Bleibt nur zu hoffen, dass die regierenden Parteien sich diesmal nicht auf den Lorbeeren ausruhen, die jüngst mit der Streichung von 219a eingeheimst wurden. Es muss weiter gehen: Weg mit Paragraph 218. Die Regierung muss sich bekennen, auf welcher Seite sie steht – für ewige Ambiguitätstoleranz ist kein Platz mehr. 

Stattdessen ist jetzt radikale Solidarität gefordert – mit Millionen von Menschen, die am eigenen (Unter-)Leib erfahren müssen, dass Simone de Beauvoir recht behalten sollte: Absolut nichts ist ohne unser Zutun von Dauer. Sogar mühsam und jahrzehntelang erkämpfte Rechte können zurückgenommen werden, sobald die Welt aus den Fugen gerät. Am Freitag ist sie das noch ein Stückchen mehr – obwohl es kurz so schien, als käme ein wenig Sonne durch.